Eine (ver)störende Begegnung

NeleChryselius

von NeleChryselius

Story

Ein Vergnügen war es nicht, aber die Mutter bestand darauf, dass ich wenigstens zweimal pro Woche dieses Restaurant aufsuchte. Sie bekam Essensmarken von ihrem Arbeitsgeber, die sie selbst nicht brauchte. Und so war es praktisch, dass ich die Gutscheine in dem Lokal einlösen konnte und versorgt war, wenn ich aus der Schule kam.

Es war mir unangenehm, dort allein zu essen. Ich fühlte mich von den anderen Gästen argwöhnisch beäugt, als ob ich etwas Verbotenes tat oder zumindest etwas, was mir nicht zustand. Deshalb war ich sehr froh, als ich eines Tages beim Betreten des Lokals meinen Vater sah.

Er war Handlungsreisender, also immer unterwegs, sein Gebiet umfasste einen Großteil Ostfrieslands. Ich wusste nie, wo er sich gerade befand und wo er zu Mittag aß. Wenn er in Wilhelmshaven war, hätte er sich mit mir verabreden können, aber das tat er kein einziges Mal.

Er hasste seine Arbeit, die er als Türklinkenputzen bezeichnete. Als wir uns in diesem Restaurant unverhofft begegneten, hatte er diese unerfreuliche Tätigkeit bereits 20 Jahre ausgeübt, weitere 12 standen ihm noch bevor. Meist kam er abends mürrisch nach Hause. Statt ‘Guten Abend’ sagte er oft: “Heute habe ich mich wieder für euch quälen müssen.”

An diesem Tag saß er in der hintersten Ecke, mit dem Rücken zum Lokal, über sein Essen gebeugt. Ich machte mir keine Gedanken, warum er diesen Platz gewählt hatte. Selbst wenn ich darüber nachgedacht hätte, wäre ich wohl nicht auf die Idee gekommen, ihn zu stören. Ich freute mich, einmal nicht allein zu Mittag zu essen, mich nicht deplatziert zu fühlen.

Ich ging zu meinem Vater und begrüßte ihn. Vielleicht in meiner Freude eine Spur zu lebhaft. Ich setzte mich ihm gegenüber. Langsam hob er den Kopf und sah mich mit kalten Augen an. Ich begriff, dass er sich keineswegs freute, mich zu sehen. “Was machst du hier?”, fragte er unfreundlich. “Essen?!”, sagte ich eher fragend als antwortend. “Aber nicht an meinem Tisch!“, stellte er unmissverständlich fest. Ich schaute ihn ungläubig an. „Ich verbringe hier meine wohlverdiente Mittagspause und will nicht gestört werden”, herrschte er mich an. “Setz‘ dich gefälligst an einen anderen Tisch!“, befahl er. Ich sah ihn verstört an. “Wird’s bald”, setzte er nach. “Verschwinde, wir sehen uns heute Abend“. Er senkte den Blick auf seinen Teller und setzte seine Mahlzeit fort, als ob nichts geschehen wäre.

Fassungslos starrte ich ihn an, sah, wie er unbeirrt weiter aß. Ich war sprachlos, hielt meine Tränen zurück und stand auf. Was hatte ich falsch gemacht? Erst viele Jahre später fand ich die Antwort: Nichts.

Wenn ich die Situation vor mir sehe, zieht es mir genau wie damals auch heute noch den Magen zusammen. Es muss ein einschneidendes Erlebnis gewesen sein, denn ich erinnere mich nicht, was danach geschah, was ich tat, nachdem ich den Tisch meines Vaters verlassen hatte. Habe ich mich an einen anderen Tisch gesetzt? Vermutlich nicht, mir war der Appetit vergangen. Ich wollte nur noch fort.

© NeleChryselius 2021-06-16

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