Eine wirklich schwierige Frage

Andrea Weiss

von Andrea Weiss

Story

Die Geschichte liegt mehr als 20 Jahre zurĂĽck. Ich kann nachvollziehen, dass meine Freundin bis heute keine zufriedenstellende Antwort auf ihre Frage gefunden hat.

Sie sitzt mir ihren beiden Kindern im Kindergartenalter auf der Polizeistation. „Warum haben Sie erst am nächsten Tag einen Arzt aufgesucht?“ „Warum ist Ihr Sohn gerade auf diesem Sessel gesessen?“ „Wie wussten Sie, dass Ihr Kind keine schwere Verletzung hatte?“ Gewissenhaft und wahrheitsgetreu beantwortet sie alles, was der Beamte wissen will. Als ihr nach einer Stunde das Protokoll zur Unterschrift vorliegt, hat sie das Gefühl etwas falsch gemacht zu haben. Besonders auf ihre Aussage, sie habe den Gesundheitszustand ihres Sohnes während der ganzen Nacht beobachten können, weil er – so wie fast jede Nacht zu dieser Zeit – bei ihr im Bett geschlafen hatte, glaubte sie sich zu erinnern, dass der Beamte eine Augenbraue hochgezogen hatte …

Ich kenne meine Freundin fast mein ganzes Leben, lange bevor sie ihre Kinder bekommen hat, weiĂź wie sie mit ihren beiden Lieblingen umgeht und lege meine Hand fĂĽr sie ins Feuer.

Die Vorgeschichte war folgende: An dem Abend, um den es ging, war eine Kindergartenfreundin ihrer Tochter da. Deren Mutter hatte etwas zu erledigen, es wurde später als gewöhnlich. Um die Zeit zu überbrücken, spielte sie mit den drei Kindern Memory, sie saßen um den Esstisch. Die üblichen Kinderstühle hatten sie auf ausdrücklichen Wunsch ihrer Kinder und nach Einschätzung von deren Fähigkeiten schon vor längerem gegen „Erwachsenen“-Sessel ausgetauscht.

Bei einer besonders kniffligen Entscheidung, welches Kärtchen aufzudecken war, wollte ihr übermüdeter Sohn seinen Ellbogen am Tisch aufstützen, verfehlte und fiel krachend zu Boden. Als er sich nach längerem Weinen äußern konnte, war klar, den Kopf hatte es nicht erwischt – die Schulter tat ihm weh. Er beruhigte sich wieder, später Schlafen siehe oben.

Am nächsten Tag fiel meiner Freundin auf, dass ihr Bub vermied, über seine Körpermitte zu greifen, ja, das täte ihm weh. Auf der Unfallambulanz wurden sie nach dem Unfallhergang befragt, das Röntgen ergab eine Grünholzfraktur – einen für Kinder typischen unvollständigen Bruch – seines Schlüsselbeins, er bekam einen „Rucksackverband“.

Einige Tage später kam die telefonische Aufforderung, sich bei der Polizei einzufinden – das Spital hätte Anzeige erstattet.

Das Erlebnis beschäftigte meine Freundin sehr, wir diskutierten damals oft darüber.

Es ist für uns beide sonnenklar, dass der Verdacht auf Kindesmisshandlung absolut ernst zu nehmen und diesem nachzugehen ist. Aber sogar sie, die sich absolut keinen Vorwurf zu machen hatte, fühlte sich nach der Einvernahme fast „schuldig“. Wie würde es Eltern ergehen, die tatsächlich eine Verletzung ihres Kindes zu verantworten hatten? Würden sie aus Angst vor Bestrafung darauf verzichten, ihr Kind untersuchen zu lassen und so dessen Gesundheit riskieren?

Eine immer noch schwierige Frage.

© Andrea Weiss 2020-11-08

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