Ich habe ein sehr distanziertes Verhältnis zu Musik, was den Ursprung in meiner Kindheit hat, denn ich bin in einer Musikerfamilie aufgewachsen. Mein Großvater war selbständiger Musiklehrer, der den Unterricht bei uns im Haus abhielt. Jeden Nachmittag, oft auch am Wochenende, kamen die Schüler, und da wurde dann geflötet, trompetet und gegeigt. Mein Großvater unterrichtete alle für eine Blasmusikkapelle nötigen Instrumente und alle Streichinstrumente. Wer einmal einen Geigenanfänger erlebt hat, kann sich die Kakophonie vorstellen, die meine Kindheit untermalte. Das Lustigste war noch der Trommelschüler, der das Trommeln im Gehen auf den Wegen zwischen unseren Gemüsebeeten übte. Und jedes Jahr vor Weihnachten veranstaltete mein Großvater ein Konzert mit allen seinen Musikschülern, was ein Großereignis in unserer Kleinstadt war und hunderte Besucher anzog.
Ich hätte alle Instrumente bei meinem Großvater erlernen können, aber ich ging nur sehr widerwillig ein paar Jahre lang zum Blockflötenunterricht. Oft und gern half ich aber beim Notenschreiben, denn gekaufte Noten waren teuer und für eine ganze Musikkapelle und die vielen Schüler wurden Noten dann einfach händisch kopiert. Wurden doch einmal Noten gekauft, übernahm die Besorgung im Wiener Musikhaus Doblinger in der Dorotheergasse meist meine Großmutter, weil mein Großvater nicht gerne nach Wien fuhr und sie die kleine Reise immer mit Besuchen bei ihren Schwestern verband, und da fuhr ich sehr gerne mit.
Eine große Rolle spielte auch der Musikverein, den mein Großvater gegründet hatte und dessen Kapellmeister zuerst er und dann mein Vater war. Den Verein, für den mein Großvater auch Märsche komponierte, gibt es heute noch. Aber mich tangierte dieser ganze Musikbetrieb immer sehr wenig. Ich war es einfach gewohnt, dass Vater und Großvater bei Begräbnissen, Bällen, Hochämtern in der Kirche und sonstigen offiziellen Anlässen spielten, dass sie oft abends bei Proben waren, dass überall Notenblätter und Musikinstrumente herumlagen, im Schrank die Uniformen hingen und die Mitglieder des Musikvereins bei uns ein und aus gingen.
Meine Tante spielte Klavier und sang, nur meine Großmutter hatte genauso wenig eine musikalische Ader wie meine Mutter und später dann ich. Ich kann aber immerhin Noten lesen und habe ein recht feines Gehör. Und ich habe heute noch die kleine Kindergeige, auf der mein Vater schon als Dreijähriger spielen lernte.
Der ganze Trubel endete dann schlagartig, denn mein Vater und mein Großvater starben innerhalb von neun Monaten, als ich 13 war.
Mit 15 bildete ich mir plötzlich ein, Klavierspielen lernen zu wollen, aber als die Klavierlehrerin am Ende des Anmeldungsgesprächs auf meine Hände zeigte und meinte, zur ersten Klavierstunde müsse ich dann die Fingernägel kurz geschnitten haben, endete meine musikalische Laufbahn noch bevor sie begonnen hatte, denn von meinen geliebten “Krallen” wollte ich mich keinesfalls trennen.
© 2022-06-01