von Kalinka
Letzten Sommer habe ich etwas nicht Alltägliches beobachtet: Eine junge Frau spaziert die Ringstraße entlang, bleibt vor einem Baum stehen, legt ihre Arme um seinen Stamm und schließt dabei die Augen. Nach ca. 1 Minute gibt sie ihn wieder frei und setzt lächelnd ihren Weg fort.
Mich hat das berührt: einerseits bewunderte ich den Mut, so etwas – nennen wir es Ungewöhnliches – mit einem sicheren Selbstverständnis zu tun. Und dann war da noch die Kraft der Bäume, von der man in der heutigen Zeit immer wieder liest und hört.
Ich bin gerne draußen, viel in der Natur unterwegs. Oft lasse ich im Vorbeigehen ein paar Gräser durch meine Finger gleiten, berühre die weiche Oberfläche von dichtem Moos oder fahre über die rissige Rinde einer Eiche. Aber umarmt, so richtig in den Arm genommen, hatte ich einen Baum noch nie. Warum eigentlich nicht?
Bei meinem nächsten Spaziergang durch den Wald bleibe ich vor einer stattlichen Buche mit knorriger Rinde stehen. Weit und breit kein Mensch zu sehen, ich bin also unbeobachtet und kann mein kleines Experiment wagen. Aber irgendwie traue ich mich nicht, meine Arme um den Stamm zu legen. So als hätte ich Respekt vor dem stummen Riesen, dessen grüne Blätter raschelnd auf mich hinunterschauen. Eine Kohlmeise setzt sich auf einen der unteren Äste, schaut mich interessiert an und zwitschert mir dann aufmunternd zu: “Sieh her, der ist ganz harmlos und tut nix!”
Ich trete noch einen Schritt näher, breite meine Arme aus und lege sie ganz langsam um den rauen Stamm. Meine Fingerspitzen treffen sich nicht auf der anderen Seite und greifen ins Leere. Zu groß ist der Umfang. Zögernd lege ich meine Wange auf die Rinde und schließe die Augen. Fühle die unebene Oberfläche, rieche den etwas modrigen Geruch. Spüre ich da etwas? Ist da mehr? Spendet mir der Waldbewohner Kraft und Zuversicht? Ich bin ganz still, warte, versuche eine Veränderung wahrzunehmen…
Eine Amsel fliegt neben mir zeternd durch die Büsche und erschreckt öffne ich die Augen. Löse die Umarmung. Lege meinen Kopf in den Nacken und schaue nach oben in das grüne Wirrwarr und den blauen Himmel. Eine kleine Windböe lässt die Wipfel über mir schwanken und ein paar trockene Blätter schweben auf mich hinab.
Nein, da war nichts. Kein Gefühl, keine Energie, die überspringt. Mir fehlen wohl die Antennen für diese Dinge. Mir reicht der Wald mit seiner Stille, dem Geruch nach Moos und feuchtem Laub. Ich erfreue mich an unterschiedlichen Grüntönen, den Formen der Blätter, dem Gesang seiner Bewohner. Das erfüllt mich mit Ausgeglichenheit und Kraft und beruhigt meine Seele. Und im Vorbeigehen lege ich nach wie vor gelegentlich meine Hand auf einen zerfurchten Stamm und sage “Hallo” zu einem der stillen Riesen.
© Kalinka 2020-10-30