Eines Tages

Lena Haider

von Lena Haider

Story

In dem Haus am Ende der Straße werde ich wohnen, mit Blick auf den Wald. Wenn ich einmal alt bin. Wenn meine Haare grau, meine Busen faltig und meine Erinnerungen brüchig sind. Du wirst da sein. Meine Hand halten und zärtlich über die ledrige Haut meiner Arme streichen. Du wirst „ich liebe dich“ denken und mir vergeben. Denn ich tue es auch. Gemeinsam werden wir aus dem Fenster sehen, in den Wald, ohne ein Wort zu sagen. Nur unser rauschender Atem wird zu hören sein. Wir verstehen einander auch so.

Dann wirst du aufstehen und gehen. „Tschüss Mama, bis bald“, wirst du flüstern und mir einen Kuss auf die Wange hauchen. Du wirst noch die Decke über meinen Beinen glatt streichen, bevor die Tür hinter dir leise ins Schloss fällt. Vielleicht drehst du dich noch einmal um, zu dem Haus am Ende der Straße, mit Blick auf den Wald. Ich werde wieder allein sein. Allein mit meinem rasselnden Atem, meiner verschleierten Sicht und meinen Gedanken, die sich nirgends mehr festhalten. Eines Tages.

Doch noch sind wir eins, selbst wenn wir zwei Lungen und zwei Herzen haben. Sie atmen und schlagen im selben Takt. Ich weiß nicht mehr wo ich aufhöre und du anfängst. Du bist auf mir, in mir, neben mir. Neun Monate habe ich dich getragen, eine Handbreit unter meinem Herzen. Hab deine Bewegungen zuerst als zaghaftes Glucksen, später als kraftvolles Treten gespürt. Hab dir meinen Körper geborgt, damit du darin wachsen kannst.

Ich habe ihn dir nicht immer gern geliehen. Du bist stetig gewachsen und mit dir mein Bauch, bis ich am Ende kaum mehr sitzen, stehen, gehen, liegen, schlafen oder essen konnte. Ich musste raus aus mir. Dort hast du schon auf mich gewartet.

Jetzt bist du da und nuckelst an meinem Busen. Nach drei Zügen machst du eine Pause, weil es dich so sehr anstrengt. Dann schläfst du ein, auf meiner Brust. Alles an dir scheint perfekt. Die kleinen Hände, die kleinen Füße, die abstehenden Ohren, die klitzekleine Nasenspitze, die Lippen, die immer noch zucken. Der Geruch deiner weichen Haut. Ich wünschte, ich könnte diesen Augenblick bewahren, einfrieren für alle Zeit. Doch er würde verwelken unter dem Eis. Es ist nichts für ewig, selbst wenn es für immer ist.

Allmählich werden wir uns voneinander lösen. Du wirst weggehen, weil du es musst. Ich werde dich ziehen lassen, weil ich weiß, dass du wiederkommen wirst. Eines Tages. Denn dich und mich kann es nicht geben, ohne einander.

© Lena Haider 2021-05-09

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