von Andreas Burkard
Er tritt in die Pedale, mit Kraft und Tempo, aber ohne Mühe, gleichmäßig, fast wie in Trance. Er hat die Nacht kaum geschlafen, musste alles startklar machen, die Wäsche waschen, seine Sachen packen, Brote schmieren, dann noch das Geschirr abspülen, den Müll rausbringen und die Pflanzen gießen. Die Rechnungen sind bezahlt. Er hatte schon gewusst, warum er seine Ausrüstung immer griffbereit hatte, sein Zelt, seinen Schlafsack, den Gaskocher und was man unterwegs sonst noch so braucht. Alles in ein paar Taschen packen, das Fahrrad beladen, hinter sich die Tür zuschließen und los. So macht man sich aus dem Staub. Er hat kein wirkliches Ziel, zumindest nicht langfristig. Heute fährt er erstmal Richtung Süden. Wo er übernachtet, wird am Nachmittag entschieden. Morgen weiter Richtung Donau, dann erstmal flussabwärts. In ein paar Tagen oder Wochen könnte er am Schwarzen Meer ankommen oder in Istanbul oder sogar in Tiflis. Spielt vorerst keine Rolle. Wichtig ist, dass er fährt. Und, dass es sich gut anfühlt oder zumindest besser. Besser jedenfalls als nichts zu tun. Nichts tun, ist keine Option. Es frisst einen auf. Wie tausend kleine Würmer frisst sich das Nichtstun durch den Körper, bei vollem Bewusstsein. Nur indem man etwas tut, indem man irgendetwas tut, lässt es sich aufhalten, lässt sich dem Nichts etwas entgegensetzen. Dann lässt das Fressen nach, nicht ganz, aber ein bisschen. Immerhin. Wie er in die Pedale tritt, merkt er es ganz deutlich: Die Würmer fressen langsamer. Der Schmerz flaut ab. Die Panik schwindet. Das innere Schreien wird leiser. Die Gedanken fliegen langsamer. Die Ordnung kehrt zurück.
Es war eine gute Idee, aufs Rad zu steigen. Es war eine gute Idee einfach abzuhauen. Das hätte er sich nicht zugetraut, hätte ihm wohl keiner zugetraut. Die Leute werden staunen. Seine Geschwister, seine Eltern, seine Freunde und seine Kolleginnen, keiner weiß Bescheid. Alle werden denken, werden wissen, dass er den Verstand verloren hat. Sie werden anrufen und er wird irgendwann ran gehen müssen, das weiß er. Er wird wohl in den nächsten Tagen seinem Bruder eine Nachricht schreiben, es soll sich niemand Sorgen machen. Sein Bruder kann dann den Rest der Familie und die engsten Freunde informieren. Was die Kolleginnen angeht, besteht fürs Erste kein Handlungsbedarf. Die werden schon merken, dass er nicht mehr auf der Arbeit erscheint. Sein Chef wird platzen vor Wut. Das geschieht ihm recht. Nein, er hegt keinen Groll gegen ihn. Es amüsiert ihn nur, sich vorzustellen, wie sein Chef feststellt, dass er machtlos ist. Wenn einer spurlos verschwindet, ist man machtlos. Die Wut wird ihm zu den Ohren rauspfeifen. Sein Chef wird ihn verfluchen und sich schwören, dass er in der Branche keinen Fuß mehr auf den Boden bekommt. Das will er auch gar nicht. Was er arbeiten wird, wenn er zurückkommt, wird sich zeigen. Vielleicht kommt er auch gar nicht mehr zurück. Jetzt ist die Zeit zum Handeln, nicht zum Planen. Geplant hat er lange genug.
© Andreas Burkard 2021-04-27