Längst vergangene Situationen detailgenau zu sehen und wie in einer Zeitschleife wieder und wieder zu erleben, ist fĂĽr mich normal. MĂĽhelos kann ich durch die Erlebnisse meiner Vergangenheit scrollen, drĂĽcke bewusst oder unbewusst einen imaginären Knopf und sogleich lĂĽftet sich auf meiner inneren Festplatte der Vorhang … und mein “Erlebnistheater“ beginnt. Eine x-beliebige Situation, einschlieĂźlich meiner empfundenen GefĂĽhle, öffnet sich. Ich höre die stattgefundenen Gespräche, sehe das Umfeld deutlich, klar, farbig. Ich tauche ein und erlebe mich … momentan z.B. bei der „SchultauglichkeitsprĂĽfung“, die ich als 5-Jährige absolvieren musste, da der Schuleintritt normalerweise erst mit 6 Jahren stattfindet: Ich sitze alleine in einem Klassenzimmer, 2 Lehrer stehen neben mir. Ich spĂĽre meine Begeisterung fĂĽr das, was ich tue, denn es fällt mir leicht, Gegenstände zuzuordnen, bunte Blumen und ein schönes Haus zu malen. Nur bei der Ausrichtung des Schornsteins muss ich nachdenken, und es ist wohl meiner kindlichen Entwicklungsleistung geschuldet, dass ich ihn im 90 Grad Winkel aufs Dach setze.
Aufgeregt warte ich am nächsten Tag auf das Ergebnis. Meine Mutter und F., die Frau des Dorfarztes, plaudern vor dem Haus, als der Postbote den sehnlichst erwarteten Brief bringt. Meine Mutter öffnet das Kuvert, liest “Bestanden” und lächelt. Ich sehe mich hĂĽpfen und jauchzen und spĂĽre, wie ein GlĂĽcksschwall meinen Körper flutet. Doch das wird sofort gestoppt, als F. sagt.: „Bestanden mit Ach und Krach … hat ein Lehrer meinem Mann erzählt.“
Ich sehe, wie meine Mutter erstarrt, “mit Ach und Krach?” wiederholt, sich schnell verabschiedet, mich ins Haus zerrt und mir eine Ohrfeige verpasst. “Was tust du uns an!“, schreit sie. ”Eine Schande bist du, eine einzige Schande!“
Obwohl ich die AusdrĂĽcke „Ach und Krach” und “Schande” nicht kenne, krallen sie sich in den Tiefen meiner Seele fest und, genährt durch weitere Verwundungen gleicher Art, wandeln sie sich im Laufe der Zeit zu Glaubenssätzen, die an meinem Selbstwert nagen und dazu fĂĽhren, dass ich mir immer weniger zutraue.
Viele Jahre später bestätigen wissenschaftliche Tests, dass mein episodisches Gedächtnis alle autobiografischen Ereignisse unvergesslich als Film speichert. In diesem Film agiere ich selbst, kann aber auch Zuschauer meiner eigenen Rolle sein und mich und andere in der Interaktion erleben. Stattfindende Gespräche zeichne ich zeitgleich mit einem fiktiven Aufnahmegerät auf. Danach kann ich sie jederzeit wörtlich abspielen, auch ohne Begleitfilm.
Mein besonders ausgeprägtes episodisches Gedächtnis habe ich lange Zeit als Fluch empfunden. Es hat mich stark belastet und eingeschränkt. Erst als ich den Menschen verzeihen konnte, die mich in meiner Kindheit und Jugend sehr verwundet hatten, konnte ich beginnen, alte, einschränkende Glaubenssätze zu entrümpeln. Meine Vergangenheit bleibt, wie sie war, doch meine eigene Beurteilung der Ereignisse hat sich gravierend gewandelt. Als ich begann das Positive in den Fokus zu rücken und die damit verbundenen Chancen zu sehen, veränderte sich auch mein Leben.
© Elisabeth Grosch-Waclowsky 2023-02-11