von Zebra
Merlin Melowski war ein kleiner, schmĂ€chtiger 10-jĂ€hriger Junge. Mit Brille, grauen Augen und mittelgroĂer Statur sah Merlin wie jedes dritte oder vierte mitteleuropĂ€ische Kind aus. Einzig die dunklen Augenbrauen stachen aus seinem schmalen Gesicht hervor. KontrĂ€r zum hellblonden Haar verliehen sie Merlins ZĂŒgen etwas Kantiges, fast Erwachsenes. An diesem anfĂ€nglichen Punkt wĂŒrde ich gerne tragisch starten und von Merlins Leidensweg erzĂ€hlen. Ich wĂŒrde gerne eine schockierend seltene UnglĂŒckssituation heraufbeschwören, um Mitleid fĂŒr Merlin und Interesse fĂŒr seine Geschichte zu wecken. Beispielsweise könnten Merlins Eltern durch die Hand des Bösen grausam ermordet worden sein. Oder aber Merlins Bruder, Peter, könnte durch die Geschicke eines zwielichtigen Machthungrigen gelenkt, einem Wahn verfallen sein. Konsequent wĂ€re es Merlins Aufgabe das Böse zu bekĂ€mpfen. Merlins Existenz an sich wĂ€re in so einem Fall tragisch vorbestimmt, sein GemĂŒt traurig belastet. Aber weder fĂŒr Eltern, noch fĂŒr Bruder interessierte sich zu dieser oder irgendeiner anderen Zeit das Böse. Einzig ein Zeitgenosse mit etwas bösartigen ZĂŒgen hatte vor einigen Jahren in der Einfahrt der Melowskis randaliert und seine FĂ€kalien hinterlassen. Der Grund fĂŒr die Tat war unbekannt, die Folgen schnell beseitigt.
Weder eine Prophezeiung war der Familie Melowski vorhergesagt worden, noch hĂ€tte sie eine Vergangenheit einholen können. Die Familie war â wie neunundneunzig Prozent der Familien Mitteleuropas â durch und durch unscheinbarer Bestandteil der Masse. Nicht in die GeschichtsbĂŒcher, sondern in die Einwohnerstatistik des Staates Ăsterreich waren sie eingegangen.
Einhergehend war auch das UnglĂŒck der Familie Melowski ein kleines, AlltĂ€gliches. Keine groĂe Tat, sondern die HĂ€ufung von vielen, manchmal atomisch klein erscheinenden Handlungen, hatte das UnglĂŒck heraufbeschworen. Es fĂŒhlte sich im Grunde nicht wie das UnglĂŒck an, mehr wie eine logische Konsequenz, der natĂŒrliche Lauf der Dinge.
Kurzum, Merlins Eltern lebten. Sie waren durchwegs gesund, körperlich fit und guten GemĂŒts. Vor einem Jahr hatten Sie beschlossen sich scheiden zu lassen. Dieser Beschluss war in schönem Einvernehmen getroffen worden. Es gab keinen Streit, keine Schreierei. Einzig der Wunsch, zukĂŒnftig doch lieber getrennte Wege gehen zu wollen, wurde von einem der Ehepartner ausgesprochen. Der andere Partner stimmte nickend mit ein, man mochte sich doch im Grunde lieber nicht mehr sehen und freute sich ĂŒber das gute EinverstĂ€ndnis. Die Details wurden geklĂ€rt, eine getrennte Zukunft geplant.
Vor rund zwei Monaten wurden die PlĂ€ne in die Tat umgesetzt. Merlin zog mitsamt Mutter und Bruder in die Wohnung der GroĂmutter nach Wien. Jedes zweite Wochenende war dem Vater bestimmt.
© Zebra 2022-07-16