von Jone Schardt
Was wäre, wenn ich nun einfach da säße. Nur zuschauen würde. Von außen auf das, was innen ist. Ich sähe sie, wie sie jeden Tag aufsteht, nur um ständig wieder hinzufallen. Wie sie kämpfen würde – jede Schlacht, ob es nun ihre wäre oder nicht. Ich sähe sie weinen und ich sähe sie schreien – aber auch lachen, springen, tanzen. Ich sähe das Glück, das das Leben für sie bereithält, und ich sähe den Mut, den sie doch eigentlich hat, es sich zu nehmen. Doch wieso sehe ich das alles nur, wenn ich da sitze und zuschaue? Wieso sehe ich es nicht, wenn ich wieder in mir bin und blind und getrieben von Angst und von Zweifeln über meine eigenen Füße falle?
Stell dir eine Welt vor, die keine Grenzen kennt. Sie ist bunt und wild und laut, sie ist aber auch ruhig und sanft und verzaubernd. Sie begegnet dir immer genau so, wie du sie entdecken möchtest. Ein riesiges Schloss – hinter jeder Tür eine neue Welt, in der Pflanzen blühen, mit Ozeanen und Wüsten und Schneestürmen. Plötzlich erwartet dich ein Feld voller Blumen – ohne den leisesten Windhauch. Egal, in welche Richtung du schaust, du kannst keinen Horizont ausmachen. Alles wird eins – mit dir, eins mit dem Moment. Ein Schloss, das keiner Logik folgt, das immer größer wird, je weiter du gehst. Das immer dunkler und bedrohlicher wird, je mehr du dich verläufst. Je öfter du die gleichen Wege einschlägst, desto mehr geht verloren. Dann ist die grenzenlose Welt plötzlich klein, nur das Labyrinth aus dichten Dornenhecken wächst weiter, und mittendrin: du. Gerade bist du noch geflogen, jetzt sitzt du da, allein. In der Kälte, in der Dunkelheit. An einem Ort, den du so gut kennst und doch immer wieder an Grenzen stößt. Ein Ort, der nur dir gehört. Dort kannst du zwar Besuch empfangen, doch sie sehen ihn nie wie du und können ihn nie ohne dich betreten. Und genau deswegen können sie dir auch nicht helfen, wenn du dich verirrt hast. Dann kannst du sie vielleicht hören – aus den Winkeln deiner Welt, die du schon lange nicht mehr betreten hast. Und trotzdem musst du den Weg immer alleine finden.
Die Tore waren längst geschlossen, als ein zartes Stimmchen sich erhob. Ein leises Hallo, ein kurzes Räuspern, doch niemand hörte mehr zu. Und so stand sie da, allein im Dunkeln. Wusste nicht, wohin mit sich. Bleibe ich hier?
Mit der Zeit kann es sich anfühlen, als würde dein Kopf eine andere Sprache sprechen. Eine, für die du keine Worte hast, wenn du gefragt wirst, was bei dir los ist. Es passiert so viel – und gleichzeitig immer dasselbe. Und trotzdem gerätst du ins Stocken. Du irrst durch dein Labyrinth, suchst den Ausweg. Und während du das alles klar vor dir siehst, läufst du trotzdem in die falsche Richtung, ohne dass du es beeinflussen kannst. Du fliehst in den hintersten Winkel, versteckst dich im finstersten Wald, mauerst dich ein im tiefsten Keller. Deine rationalen Gedanken lässt du zurück. Stattdessen nimmst du das mit, was du eigentlich nicht möchtest. Da sitzt deine Angst, du wärst falsch oder einfach nur zu schwach. Du könntest dich lächerlich machen oder jemanden enttäuschen, wenn du das sagst, was du wirklich fühlst. Da sitzt die Wut – über dich selbst und dass ihr da zusammensitzt. Die dich anschreit, weil du schon wieder stumm bist. Und da sitzt die Scham und verurteilt dich. Einfach für das, was du bist.
© Jone Schardt 2025-08-31