von Lea Beschorner
Vor lauter Nervosität konnte ich den ganzen Tag lang nichts essen. Das kriege ich jetzt zu spüren. Ich habe das Gefühl, mein Magen ist schmerzhaft auf die Größe eines Golfballs geschrumpft, will aber gleichzeitig mit Nahrung in Größe eines Gymnastikballs gefüllt werden.
Wir haben uns zum Spazieren mit anschließendem Abendessen verabredet. Es ist schon dunkel, aber die Stadt ist irgendwie immer hell. Wir laufen am Mainufer entlang und sie erzählt mir von dem merkwürdigen Traum, den sie letzte Nacht hatte. Es fällt mir schwer, mich auf das zu konzentrieren, was sie sagt.
Schon vor einer Weile hatten wir Witze darüber gemacht, wie es wäre, wenn wir uns küssen. Sie wäre nicht abgeneigt, wenn ich das richtig verstanden habe. Und auch, als ich ihr schrieb, dass ich ihr gern näher kommen würde, stimmte sie diesem Treffen hier dennoch zu. Seitdem ich es ausgesprochen hatte, drehen sich meine Gedanken um nichts anderes als diesen Kuss. Es gab lange Zeit niemanden in meinem Leben, den ich an mich heranlassen wollte. Dass ich das letzte Mal jemanden geküsst habe, ist bestimmt schon zwei Jahre her. Ich vermisste es nicht. Aber seit sie in mein Leben geplatzt ist, sehne ich mich sehr danach.
Wir laufen die Treppen zum Eisernen Steg nach oben.
»Lass uns ein Foto zusammen machen«, schlägt sie vor. Wir stellen uns ans Geländer der Brücke. Überall hängen Liebesschlösser in allen Formen und Farben. So etwas wäre nichts für sie. Das wäre ihr zu kitschig. Am Anfang der Brücke stand eine Frau, die Violine gespielt hat. Das brachte mich schon zum Zweifeln, ob ihr das Szenario hier überhaupt gefällt.
»Lächeln!« Während sie das Foto mit ihrem Handy macht, lege ich meinen Arm um ihre Hüfte und ziehe sie ein Stück näher zu mir heran. In meinem Kopf ist es so laut, dass ich Angst habe, sie kann alles mithören. Jetzt trau dich endlich und küss sie, sagt die Stimme. Ich weiß nicht, ob es den perfekten Moment für einen Kuss gibt. Aber wenn ja, dann ist er definitiv jetzt.
Auf unserem Foto kann man im Hintergrund mehr oder weniger die Skyline erkennen. Ein paar Lichter ließen sich einfangen, der Rest ist einfach dunkel. Auch unsere Gesichter sind eher unscharf, aber dennoch sehen wir irgendwie glücklich aus. Ich frage sie, ob wir noch ein Foto machen können, um dann später eine Auswahl aus zumindest zwei Bildern zu haben. Sie willigt ein. Insgeheim brauchte ich einfach noch eine Minute länger Zeit, um mich mental auf den Kuss vorzubereiten.
»Und, zufrieden?« Sie deutet auf das zweite Foto.
»Ich finde doch das erste besser«, sage ich. Als sie ihr Handy wieder zurück in ihre Jackentasche steckt, wage ich den Schritt, der mich ziemlich viel Überwindung kostet. Langsam ziehe ich ihr Gesicht zu meinem heran.
»Du schmeckst nach Zigarette«, sagt sie. Ich muss lachen und küsse sie noch mal, als ich quasi hören kann, wie mir ein Stein vom Herzen fällt.
© Lea Beschorner 2022-11-30