Eiseskälte

Sascha Rakers

von Sascha Rakers

Story

Der Januar des Jahres 1987 war einer der kältesten Monate in der bisherigen Geschichte Deutschlands. Teilweise wurden in der damals kleinsten Großstadt Bayerns Höchstwerte zwischen -11 und -16 Grad Celsius gemessen. In diese nicht nur äußerliche Kälte wurde ein kleiner Junge hineingeboren. Es war ein Junge, der jedoch schon früh jede Menge Wärme in seinem Herzen trug. Von seinen Eltern erhielt er den Namen Tobias.

Tobias war von Beginn an sehr quirlig und erkundete alles um ihn herum: Als er nur wenige Monate alt war, fing er an, die Tapete in seinem Zimmer von der Wand zu reißen. Er öffnete den Kühlschrank, spielte mit den Kassetten der Mutter herum und drehte das Band ganz gelassen heraus. Die Vinylplatten nahm Tobias aus ihren Hüllen und stieß auch mal die ein oder andere Vase vom Tisch.

War es wirklich die Neugier, die Tobias antrieb? Oder wollte er die Aufmerksamkeit von zwei emotional und teilweise physisch nicht erreichbaren Elternteilen auf sich ziehen, damit er endlich gesehen und gehört wird? Er wollte doch nur endlich anerkannt werden und sich auch dazugehörig fühlen.

Sein Vater Klaus, zunächst einfacher Arbeiter in einem großen Stahlwerk, entschied sich irgendwann dazu, sich im Gartenbau selbständig zu machen. Da war Tobias ein Jahr alt – und schon stand der erste Umzug in den hohen Norden an. Klaus war jetzt kaum noch zu Hause, denn seine neue Tätigkeit brachte ihn zu den unterschiedlichsten Orten und Menschen in ganz Deutschland. Mit seiner kreativen Ader machte er jeden Garten zu einer Wohlfühloase. Nach so einem Ort der Geborgenheit sehnte sich auch Tobias.

Seine Mutter Hannelore dagegen war als Hausfrau mit der Erziehung von Tobias beschäftigt. Sie betrachtete ihn als ihren „Ein und Alles“ und überschüttete ihn mit Liebe – aber auch allerlei materiellen Dingen. Mit Geld konnten aber weder Hannelore noch Klaus umgehen. Sie waren chronisch pleite. An einem verregneten Frühlingstag stand sogar der griesgrämig dreinblickende Vermieter vor ihrer Tür und wollte Hannelore und den inzwischen gerade drei Jahre alt gewordenen Tobias auf die Straße setzen, weil die Miete nicht mehr bezahlt wurde.

„Sie wohnen in meiner Wohnung und sind jetzt schon zwei Monatsmieten im Rückstand. Wie soll das denn weitergehen? Ich habe schließlich auch Rechnungen, die bezahlt werden müssen“, schrie er Hannelore an. Die naiv-leichtgläubige und überforderte Hannelore hatte keine Worte der Erwiderung übrig.

Das bekam auch Olga, eine mit Hannelore gut befreundete Nachbarin, mit. Gerade noch rechtzeitig schaltete sie sich ein: „Sie können doch eine Mutter mit ihrem dreijährigen Kind nicht einfach auf die Straße setzen.“ Der Vermieter ließ sich jedoch von seiner Haltung nicht abbringen. „Sehen Sie, der Ehemann und Vater der beiden hat sich seit Monaten nicht mehr blicken lassen, nimmt das ganze Geld vom gemeinsamen Konto sofort nach Eingang runter. Die beiden stecken in einer echten Zwickmühle“, fuhr Olga fort. Und ergänzte abschließend: „Lassen Sie uns doch in Ruhe über mögliche Lösungswege sprechen.“

© Sascha Rakers 2025-06-16

Genres
Romane & Erzählungen
Stimmung
Herausfordernd, Emotional, Hoffnungsvoll, Traurig