von Sophie Becker
Das Wasser ist kalt, dachte sie. Ich kann es nicht spüren, aber es muss kalt sein. Deshalb war es so klar. Nicht ein Schmutzpartikel war zu sehen. Keine Alge, kein Schlick. Ein paar Fische, die in Winterstarre verfallen waren, schwebten wie von einer unsichtbaren Strömung angetrieben vorbei. Die Schuppen glitzerten im Licht. Das sieht schön aus, dachte sie. So eine Kleinigkeit und trotzdem sieht es so schön aus. Solche Dinge waren wichtig geworden für sie. Die Ruhe lastete schwer auf ihr. Sie war so allumfassend, dass sie fast zu dröhnen schien. Was ich für Musik geben würde, dachte sie. Ein gesprochenes Wort, ein Lachen, ein Atmen. Das Ticken einer Uhr. Einfach irgendetwas. Plötzlich bewegte es sich. Oben. Sie sah es nicht mit ihren Augen und hörte es nicht mit ihren Ohren und trotzdem nahm sie es wahr. Stimmen, die die Stille gedämpft durchschnitten. Schritte auf der Erde, jeder als würde er ein ganzes Erdbeben auslösen. Und der See erwachte, mit tausend listigen Augen, die aus der Dunkelheit spähten und tausend messerscharfen Reißzähnen, von denen der Speichel tropfte. Bereit, sich ein weiteres Opfer zu holen. Die Menschen – es waren Kinder – betraten die verheißungsvoll glitzernde Eisfläche. Nein, wollte sie schreien, nicht! Kehrt um! Doch ihr Körper gehorchte ihr nicht. Ihr Körper war nicht mehr ihr Körper. Er war nur noch ein erkalteter Fleischhaufen. So konnte sie nichts tun als zuschauen, als ein unheilvolles Knacken ertönte, das ihr durch Mark und Bein fuhr. Hätte sie denn eins von beidem gehabt. Das Eis bekam Risse. Die Kinder bemerkten es, versuchten von der gerissenen Stelle zu fliehen, doch ein Kind war langsamer als die beiden anderen. Sie hatten schon fast das Ufer erreicht, als die Risse das langsamere Kind einholten. Und das Eis brach. Mit einem dramatischen Bersten stürzte der Junge in die Fluten. Er zappelte und trat panisch um sich, schrie nach seiner Mutter. Doch auch die konnte ihm hier nicht helfen. Der See hatte ihn jetzt. Die anderen Kinder gerieten in Panik und robbten auf dem Bauch an das Loch im Eis heran, versuchten seine wild um sich schlagenden Ärmchen zu packen. Als sie ihn endlich erwischt hatten und dabei waren, ihn hinauszuziehen, legte der See nochmal nach. Er war nicht bereit, seine Beute so leichtfertig gehen zu lassen. Eine plötzliche Strömung erfasste den Körper des Jungen und zog ihn ruckartig in die Tiefe. Seinen Freunden entglitten seine Arme und so konnte der See ihn ungehindert an sich ziehen. Sein Kopf wurde unter die Wasseroberfläche getaucht. Ein paar Momente strampelte er noch, doch schließlich ließen diese Bewegungen nach. Der See schien zu lachen, als seine Freunde auf dem Eis verzweifelt um Hilfe schrien. Der Körper des Jungen sank unterdessen immer tiefer, um ihr Gesellschaft zu leisten.
© Sophie Becker 2023-07-25