Eiskalter Wind

Kerstin Wider

von Kerstin Wider

Story
2024

Als ich ungefĂ€hr 12 Jahre alt war, haben wir im Geschichtsunterricht „Schindlers Liste“ geschaut. Danach konnte ich wochenlang nicht schlafen. Und hatte stĂ€ndig die Fragen im Kopf: „Wie war es möglich, dass so etwas Schreckliches passieren konnte?“ „Warum hat niemand etwas getan?“ Und die Tatsache, dass meine Großeltern zu der Zeit in Deutschland gelebt haben, hat mich sehr verunsichert. Und eines Tages habe ich mich getraut und meinem Opa meine Fragen gestellt. „Opa, wie war das damals? Wie war das fĂŒr euch? Warum hat denn niemand was dagegen unternommen?“. Und mein Opa hat mir geantwortet: „Wir haben das ĂŒberhaupt nicht wirklich mitbekommen. Es gab ja nur wenige Informationen und die wenigen waren natĂŒrlich gesteuert.“ Damals hatte ich zwar meine Zweifel … aber ich wollte es so akzeptieren. Und habe nicht weiter gefragt. Und ich dachte mir, dass das zwar ein rabenschwarzes, aber zum GlĂŒck abgeschlossenes Kapitel sei. Und heute … 33 Jahre spĂ€ter … habe ich Angst.

Und die GrĂŒnde dafĂŒr möchte ich mit euch teilen. Vorab allerdings versprechen, dass ich keine politische Diskussion fĂŒhren möchte. Das könnte ich auch gar nicht, weil Politik definitiv nicht zu meinen Kernkompetenzen gehört. Und ich davon auch viel zu wenig Ahnung davon habe. Ich habe mir seit ein paar Monaten sogar weitestgehend abgewöhnt, tĂ€glich Nachrichten zu lesen bzw. schauen. Weil es mich so unendlich traurig macht, was gerade auf der Welt – und auch in Deutschland passiert. Und ich frage mich schon wieder: wie konnte das passieren? Dass die eigene Unzufriedenheit Menschen dazu veranlasst, Alternativen zu wĂ€hlen, die definitiv keine sind. Dass Hass und Wut das Handeln bestimmen … dass Hetzer Argumente sinnlos machen … dass vermeintlich intelligente Menschen nur noch nachplappern … dass plötzlich wieder alles nur noch schwarz/weiß sein kann.

Wo kommt er her, dieser eisige Wind, der ganz viel braunen Mist mit sich bringt. Und vor allem… wo fĂŒhrt er hin? Das macht mir am meisten Angst. Und eins steht fest: egal was passiert. Wenn wir irgendwann gefragt werden, wie das passieren konnte … dann können wir definitiv nicht behaupten, wir hĂ€tten es nicht mitbekommen. Wir bekommen alles mit – ob wir wollen oder nicht. Und es liegt an uns, wie wir damit umgehen. 

Meiner Meinung nach sind die Zeiten vorbei, wo Schweigen Gold ist. Meiner Meinung nach ist jetzt die Zeit gekommen, laut und deutlich Farbe zu bekennen. Und meine Wahl ist klar: Ich mag es bunt – und braun kann mich mal. 


© Kerstin Wider 2024-01-15

Genres
Romane & ErzÀhlungen
Stimmung
Herausfordernd, Dunkel, Hoffnungsvoll, Reflektierend, Traurig
Hashtags