Eiszeit

Gabriele Fürnweger

von Gabriele Fürnweger

Story

“Nora ist tot!” Seine Stimme drang in mein Ohr und fraß sich in mein Hirn. Mein ganzer Rücken verkrampfte sich. Ich fühlte mich gelähmt, lag im Bett, das Handy fiel mir aus der Hand. Meine schlimmste Befürchtung war zur schrecklichen Wahrheit geworden. Meine Tochter ist tot. Die Vögel der Dunkelheit hatten sich endgültig auf meinem Dach niedergelassen.

Wie eine Schlange kriecht die klirrende Kälte meinen Körper entlang, lässt das Blut in meinen Adern gefrieren. Ihre eisige Hand umschließt mein Herz, lähmt mich von den Zehenspitzen bis zum Scheitel. Zieht mich in ihren Bann, lässt mich in ihrem Sog verschwinden. Schließt mich ein im ewigen Eis. Sie zermalmt mich und wandelt mich.

Ich lasse mich ganz in den Schmerz hinein fallen, fahre auf einen einsamen Berg und schreie meinen Schmerz hinaus in die kühle Luft. Ich gehe in der Schwere zu Boden und will mitsterben. Bis ich fühle, dass mich die Erde trägt.

Meine Tochter hatte jahrelang unter Panikattacken gelitten, die ihr das Leben schwer machten. Sämtliche Therapien konnten ihr nicht nachhaltig helfen. Sie bekam Medikamente verschrieben, darunter auch Tranquilizer. Mein kleines, fröhliches Mädchen, das so gerne plauderte und lachte, war zu einer angstgeplagten jungen Frau geworden. Es begann, nachdem ihre Freundin tödlich verunglückt war und sie in der Schule gemobbt wurde.

Nora flog in die Welt hinaus. Die Wurzeln waren nicht stark genug. Sie schluckte zu viel. Sie verlor das Gleichgewicht. Sie schlief und wachte nicht mehr auf.

Ich hatte sie nicht retten können, meine Ansprüche an mich nicht erfüllen können! Hatte ich versagt als Mutter? Wie wäre das unfassbar Entsetzliche zu verhindern gewesen? Unablässig stellte ich mir die Frage. Ich stürzte in einen dunklen Abgrund und verlor jegliche Lebensfreude.

Die Trauer brach mein Herz auf, machte mich zu einem anderen Menschen. Ich war dem Tod nahe gekommen, versuchte ihn zu begreifen, seine Gegenwart im Leben anzunehmen.

Zwei Monate vor ihrem Tod hatte Nora zu mir gesagt:“Mama, ich werde nicht mehr lange leben. Dann werd` ich im Himmel sein und runterschauen, dich sehen und mich freuen, wenn es dir gut geht.“ Diese Worte meiner Tochter halfen mir, ins Leben zurückzukehren. Ich durchschritt immer wieder das Tal der Trauer und versuchte meinen Weg zu würdigen. Ich hatte getan, was mir möglich war, und das war oft sehr herausfordernd gewesen.

Leben, du zermalmst mich, tauchst mich in das tiefe Meer der Gefühle, umspülst mich, reinigst mich und lässt mich auftauchen. Geschliffen wie ein Rohdiamant, gekrönt und gekreuzigt, aus mir selbst heraus geschält.

Wenn ich jetzt an Nora denke, empfinde ich Dankbarkeit, dass sie da war, dass ich viele wunderschöne Jahre mit ihr verbringen durfte, vor den schweren. Ich spüre in meinem Herzen ein Gefühl der unendlichen Liebe. Dankbarkeit, dass es ihr jetzt gut geht und ich ewig mit ihr verbunden bin. Und ich sehe, dass sie lächelt.

© Gabriele Fürnweger 2022-06-24

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