Elf

Anné Murrer

von Anné Murrer

Story

Als meine Mutter zu Hause war, wurde die Situation unerträglich. Wir wussten, dass es bald so weit sein würde, doch die Tage zogen sich hin. Es gab einen Moment, an dem ich in meinem Zimmer an meinem Schreibtisch lehnte und vor mich hinsagte: „Jetzt stirb doch endlich!“ Grausam, nicht wahr? Ich habe diesem Moment jahrelang geheim gehalten. So etwas darf man nicht aussprechen, nicht einmal denken. Aber man muss die Umstände betrachten, die mich zu diesem Gedanken brachten. Wir litten alle darunter wie sehr meine Mutter litt. Und ich wollte einfach nur, dass es vorbei war. Mein Zuhause war kein Zuhause mehr. Meine Mutter war nicht mehr meine Mutter. Sie, die jahrelang immer etwas mehr auf den Rippen gehabt hatte, war inzwischen vollkommen abgemagert. Die meiste Zeit schlief sie. Und wenn sie wach war, war sie so sehr mit Schmerzmitteln vollgepumpt, dass sie kaum klar denken konnte. Bei dem letzten Gespräch, das ich mit Mama geführt hatte, zählte sie die wenigen Details auf, die sie noch wusste: Ihren Namen und den genauen Ort, an dem sie sich befand. Als ich ihre Worte bestätigte, fragte ich sie, ob sie wüsste, wer ich sei. Ich erhielt keine Antwort. Ein paar Tage bevor sie starb, spielte ich ihr auf meinem neuen Klavier „Comptine d’un autre été, l’après-midi“ von Yann Tiersen vor. Ich weiß nicht, ob sie es noch gehört hat. Ich hoffe es jedenfalls. Eines Tages begann sie, laute Geräusche von sich zu geben und sich heftig zu bewegen, so als würde sie im Traum mit jemanden kämpfen. Die Pflegerin, die in diesem Moment glücklicherweise bei uns war, gab ihr Beruhigungsmittel. Als ich sie fragte, was mit Mama los sei, drehte sie sich zu mir um, sah mir fest in die Augen und sagte: „Deine Mutter stirbt.“ Danach dauerte es noch eine ganze Weile, bis Mama wirklich tot war. Sie wurde stundenlang ruhiggestellt, also gingen mein Vater, meine Schwester und ich wieder unserem Alltag nach. Irgendwann holte meine Schwester uns ins Wohnzimmer. Sie war an Mamas Bett vorbeigegangen und hatte gemerkt, dass sie aufgehört hatte zu atmen. Mamas Gesichtsausdruck werde ich nie vergessen. Er war nicht friedlich und sie lächelte auch nicht so, als wäre sie einfach eingeschlafen. Nein, ihr Mund hing an einer Seite schlaff herunter, als hätte sie gerade einen Schlaganfall gehabt. Die Pflegerin richtete schließlich ihr Gesicht und meine Schwester und ich setzten uns an Mamas Bett und hielten ihre Hand. Sie hatte immer noch ein Gerät mit ihrem Körper verbunden, das ihr regelmäßig Schmerzmittel verabreichte. Als es zum Zeichen einer erneuten Medikamentenabgabe surrte, sagten meine Schwester und ich gleichzeitig: „Na, jetzt brauchst du ihr auch nichts mehr zu geben.“ Und wir lachten leise. Das mag jetzt makaber klingen, doch für uns war Humor in diesem Moment die einzige Zuflucht. An demselben Abend erlaubte mein Vater mir zu Mila zu fahren. Sie kam mir auf halbem Weg mit dem Fahrrad entgegen und umarmte mich mit Tränen in den Augen. Seltsam, ich selbst habe fast gar nicht geweint.

© Anné Murrer 2023-08-25

Genres
Biografien
Stimmung
Emotional