Endlose Zugfahrt

Caroline Isabelle von Sinner

von Caroline Isabelle von Sinner

Story

Frühmorgens – gefühlt war es mitten in der Nacht – rissen uns laute Rufe aus dem Schlaf. Ich kroch übers Bett zum Fenster und sah, wie zwei Männer von Hand ihre riesigen Gitterwagen, in denen sich der Abfall türmte, hinter sich her zogen und alle paar Meter weiteren Abfall, den sie auf der Strasse fanden, auf ebendiese Wagen warfen. Das war ein anderer Anblick als daheim, wo die Müllmänner bei jedem Ochsner-Eimer an der Strasse vom Mülllaster absprangen, den Eimer packten, leerten, zurückstellten, wieder auf das grosse Gefährt aufsprangen und weiterfuhren.

Aber vermutlich wäre so ein Müllwagen auch viel zu breit gewesen für die enge Gasse unten am Hotel Torino in Neapel.

Heute Abend sollte es wieder nach Hause gehen: Mit dem Zug nach Rom, umsteigen, von dort nach Mailand, umsteigen, und von Mailand mit dem Direktzug nach Basel. An unseren letzten Tag in Neapel habe ich seltsamerweise, bis auf die Episode mit den Müllmännern und ihren gigantischen Handwagen, keinerlei Erinnerung. Umso besser erinnere ich mich dagegen an die Rückfahrt in die Schweiz.

Es war schon dunkel, als wir am Bahnhof von Neapel den Zug nach Rom bestiegen. Wir quetschten uns irgendwo dazu, es würde ja bloss zwei Stunden dauern. Ab Rom hatten wir dann reservierte Plätze.

Aber in Rom fanden wir einen noch volleren Zug vor; mit unseren Lehrern zusammen waren wir vielleicht vierzehn, fünfzehn Nasen, die sich nun über mindestens zwei Waggons verteilen mussten. Wir suchten uns jeder ein Plätzchen – auf einem Koffer, vor dem Klo, im Gang – wo es eben ging. Die Glücklichsten unter uns vermochten vielleicht den Viertel eines Sitzes in einem der überfüllten Abteile zu ergattern.

Nach einer gefühlten Ewigkeit fuhr der Zug los und begab sich auf eine schier endlose Fahrt durch eine schier endlose Nacht. Halb dösend sassen oder lagen wir auf unseren Taschen und Rucksäcken oder auf dem nackten Boden, rückten zur Seite, wenn jemand über Passagiere und Gepäck hinweg zum Klo kletterte, und starrten immer wieder hoffnungsvoll ins Dunkel hinaus: Wurde es nicht schon bald Tag? Dann wäre man nämlich in Mailand. Verlangsamte der Zug etwa? Sind wir wenigstens schon in Bologna?

Aber der Zug ratterte unbarmherzig und monoton weiter durch die schwarze Nacht.

Wie ein Wunder erschien dann doch noch die Sonne am Horizont. Todmüde stolperten wir in Mailand aus dem Zug, kauften etwas Wasser und setzten uns, völlig erschöpft, in den nächsten. Es war ein Schweizer Zug mit Raucher- und Nichtraucherwagen, die einen mit roten, die anderen mit grünen Sitzen in der zweiten Klasse. Und er war leer. Rasch verteilten wir uns auf unsere Abteile und versuchten, uns auf den starren Sitzen einigermassen bequem einzurichten. Nun würden wir bald zu Hause sein. Die Abiturreise war zu Ende.

© Caroline Isabelle von Sinner 2021-03-27

Hashtags