Endstation 71er

Bernd Lange

von Bernd Lange

Story

Die Zeitung hier schreibt auch nichts Lesenswerteres als anderswo. Der Kaffee schmeckt vielleicht ein wenig mehr nach Gelassenheit als daheim. Hier drin, in einem dieser nostalgisch leicht angestaubten Cafés, dämpft Pianomusik den eisigen Wind, der die Schneeflocken unruhig durch die Gassen jagt. Im gelblichen Licht der tief herabhängenden Jugendstillampen über meiner Tasse kommen meine verwinkelten Gedanken ganz langsam zur Ruhe.

Bim unterwegs. So lese ich auf einer vorbeifahrenden Straßenbahn. Die hier Bim heißt, weil sie an der Haltestelle kurz vor dem Abfahren noch einmal bimmelt. Ich bim also unterwegs. Gestern war das, gleich nach meiner Ankunft am Westbahnhof. Bim mit der Bim, mit Umsteigen, zum Zentralfriedhof. Mir war danach. Es schwingt nach, jetzt noch, in diesem Kaffeehaus, in dem ich einen weiteren Kaffee trinke.

Stundenlang über einen Friedhof laufen? Besser, auf einem Friedhof, der eine eigene, fahrplangeregelte Buslinie hat, mit mehreren Haltestellen. Er hat nicht nur die Großen der Musik, der Literatur, der Kunst und der Politik unter sich. Er lässt sich auch bequem in mehreren Tagen erkunden, ohne dass man auch nur einen Weg zweimal gehen müsste. Sofern man auf den Linienbus verzichtet. Bim schon da, könnte auch auf dem Bus stehen. Doch der bimmelt ja nicht. Und eine solche Botschaft passt dann doch nicht unbedingt zu diesem Ort.

Ja, er schwingt jetzt noch nach, der Zentralfriedhof. In meiner derzeitigen Stimmung. Mit seiner Größe, mit seinen Größen. Ich lebe im Gestern. Lese in Grabsteinen, oh Gott. Auf dem ein ihm Anvertrauter für die Ruhe hier unten gedankt hat, die ihm auf der Erde nicht vergönnt war. An einer anderen Stelle ruht eine ehrenhafte Jungfrau, auf deren fein ziseliertem Kreuz sich in und mit Liebe ihr dankbarer Sohn verewigt hat. Neben einem der durchaus schon prominenteren Wege hat vor mehr als 90 Jahren im Alter von 59 Jahren ein Realitätenbesitzer seine letzte Ruhe gefunden, ich wünsche es ihm, dass ihn nicht dort auch noch die Realität eingeholt hat. Mir lässt diese Berufsbezeichnung jedenfalls keine Ruhe, vielleicht hat er ja zu Lebzeiten auch schöne Realitäten besessen? Dann wieder hat mich die Toleranz der Kirche überrascht, lese ich doch, vom Schnee halb verdeckt, dass eine betagte Dame mit den K. u. K. Sterbesakramenten versehen, in Gottes Reich geholt wurde. Glücklich, so denke ich, ist es demjenigen ergangen, auf dessen Stein in schwungvollen Lettern geschrieben steht, dass ihm selbiger vom Herzen gefallen ist.

Die Frage des Obers, dessen Fliege akkurat die untere Hälfte seines Doppelkinns einigermaßen geschickt verdeckt, nach einem weiteren Wunsch, mit dem er mich bedienen könne, holt mich zurück in meine Realität. Der Kaffee hier schmeckt wirklich ein wenig mehr nach Gelassenheit als daheim. Hier, in einem dieser nostalgisch leicht angestaubten Cafés, in dem Pianomusik den eisigen Wind, der mir so schneidend und endgültig ins Gesicht gepfiffen ist, dämpft.

© Bernd Lange 2020-06-22

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