Endstation Sehnsucht

Wortwaisen

von Wortwaisen

Story
Welt

Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, wann mich die Sehnsucht erwischte, aber plötzlich war sie da. Ungefragt. Unverschämt. Vor allem aber total klassisch mit allem, was dazu gehört. Sie setzte sich täglich an meinen kleinen Esstisch in der Küche, trank mit mir Kaffee und schaute mich an. Sie besetzte die Couch, während ich in Ruhe netflixen wollte, aber sie quatschte immer dazwischen, sodass ich die Fernbedienung zur Seite legen musste, um ihr besser zuzuhören. Abends kroch sie unter meine Bettdecke, legte sich in meine Brust und seufzte.

Heute frage ich mich, ob sie mich per Zufall gefunden hat, oder ob sie konkret nach mir gesucht hat. Das macht nämlich einen Unterschied. Eigentlich habe ich mich nie nach der Sehnsucht gesehnt – ich verspürte keinen Drang in meinem Dasein etwas zu tun, um ungestillte Sehnsüchte zu erfüllen – oder mich weiterzutragen, um an diese Endstationen zu gelangen, die sowieso unerreichbar sind.

Endstation Sehnsucht. Man kennt das Szenario und wenn man die schnulzige Romantik dabei weglässt, und nüchtern auf das Areal blickt, ist es auch nur ein verwahrloster Bahnhof mit Zügen ohne Gleise. Züge, die niemals abreisen, sondern mit der Zeit in sich verfallen, sich von Efeuranken bewachsen lassen und zu lost places mutieren, die lediglich an ein goldenes Zeitalter erinnern. Aber als die Sehnsucht bei mir war, klopfte sie immer wieder an mein Herz und erinnerte mich daran, dass draußen eine Welt lag. Sie blickte mich an, mit diesen treuen loyalen Augen – komm., nimm meine Hand und lass uns die Abenteuer suchen, die dir das Leben bietet. Hättest du deiner Sehnsucht diesen Wunsch abgeschlagen? Wohl kaum. Heute weiß ich, dass es nicht irgendein Abenteuer war, sondern dass ich mich selbst erkennen – mich selbst entdecken durfte. Statt mit dem Finger auf der Landkarte, stand ich vor dem Spiegel, und zeichnete meine Konturen nach – mit all ihren dunklen Sonnenflecken, wie auch hellen Schattenseiten. Es war ein Lustwandeln auf den Fährten der Sehnsüchte. Lief ich doch barfuß über steinige Küsten, vergrub meine Herzen in den Sand jener Strände, die ich immer besuchen wollte, liebte mich durch sämtliche Seelen – nur um zu erkennen, dass ich wieder und immer wieder in einer Sackgasse landete. Und dann saß ich erneut an meinem kleinen Esstisch in der Küche, trank ein Glas Wein und die Sehnsucht schenkte mir immer wieder nach. Aber die schamanischen Trommeln klopften immer lauter an meine Herzwand, als würde mich mein eigenes Abenteuer verschlingen wollen. Und ich stürzte mich bedingungslos liebend in dieses Etwas – getränkt mit der ganzen Sehnsucht, die mich in ihrem Schoß genährt hatte, damit ich mir endlich selbst begegnen konnte. War ich doch für so viele eine Insel der gefühlten Begierden – ein Ort der Zuflucht, wo man sich hineinsetzen konnte, wenn man traurig war – wenn man sich nach Liebe sehnte und manch einer boxte sich mit Worten durch meinen Körper, voller Wut oder unerwiderter Liebe – alles nur, weil ich die Bestimmung der Sehnsucht vollends erfüllte. Von Anfang an.

Nämlich niemals erreichbar zu sein.
An keinem Ort der Welt.
Zu keiner Zeit.
Für niemanden.
Und ich begriff:
Ich war die Endstation Sehnsucht.

© Wortwaisen 2024-09-27

Genres
Romane & Erzählungen
Stimmung
Emotional, Traurig, Reflective
Hashtags