von Gunny Catell
In meiner Jugend erlebte ich immer wieder Momente der Einsamkeit oder des Alleinseins, in denen ich mich nicht zugehörig oder verstanden fühlte. Die Gesellschaft Gleichaltriger erschien mir zu oberflächlich und diskriminierend. Kino oder Fernsehen boten mir daher oft einen Zufluchtsort, mich tiefer mit der Welt zu verbinden, ohne den Schmerz und die Isolation zu spüren. Ich entfloh in eine andere Welt, oft zwiespältig, aber meist gerecht und hoffnungsvoll. Ich entwickelte mich regelrecht zum intimen Kenner der Filmgeschichte Hollywoods oder großer deutscher Stummfilme wie Metropolis. Damals wurden sie noch zur besten Sendezeit gezeigt und prägten meinen Geschmack, was gute Filme angeht. Schon bald kannte ich alle Oscar-filme und bewertete in meinem geheimen Filmtagebuch alles, was ich sah. Auf der Leinwand beeindruckten mich Schauspielerinnen wie Vivien Leigh und ihr begegnete ich auch im wohl besten Streifen, den ich im TV gesehen hatte, Endstation Sehnsucht. Dieser Film zerriss und faszinierte mich gleichermaßen.
Er zeigte eine Welt, in der ich nicht leben wollte, die mich aber durch eine Hölle der GefĂĽhle jagte – und das fand ich wichtig. Ich wuchs in einem extrem konservativen Umfeld auf, die mein Inneres in ständige Unruhe versetze und damit die Angst vor Sexualität, dem eigenen Selbstverständnis und der Entfremdung von mir selbst schĂĽrte. Der Film hatte eine starke Wirkung auf mich: Ich sah die zerbrechliche Psyche meiner Mutter in Blanche und die erbarmungslose Härte meines Vaters in Stanley. Es fasziniert mich, wie der Regisseur Elia Kazan diese komplexe, oft dĂĽstere Welt mit solcher Poesie und Tiefe einfing und meine unerfĂĽllten WĂĽnsche und Ă„ngste entblößte. Ich wollte sein wie Marlon, dieser ungehemmte Archetyp – und dabei so sinnlich. Ich schätzte ihn aber auch, weil er einen rohen Menschen so vieldeutig spielte. Stanley ist ein Mann, der seine Welt mit Gewalt und Dominanz ordnet, doch hinter dieser äuĂźeren HĂĽlle steckt auch ein verletzlicher Mensch, dessen Unfähigkeit zur Kommunikation und Empathie zum tragischen Ende fĂĽhren musste. So wie mein Vater wollte ich daher nie werden. Noch mehr liebte ich Vivien in Blanche, dieses fantastische Traumwesen, eine Frau voller Geheimnisse und innerer WidersprĂĽche. Ich sah in ihr alle meine Komplexe und Ideale verkörpert. Stanley hatte ein starkes BedĂĽrfnis, Blanches Geheimnisse aufzudecken, um die Wahrheit zu erfahren. Er zwingt sie, sich mit den Schatten ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen. Der Film lieĂź mich mit der unangenehmen Frage zurĂĽck: Was ist der Preis meiner Sehnsucht nach einer freien Welt und wie lange kann ich meine Fassade aufrechterhalten? Tennessee Williams hätte mir vermutlich geantwortet, „immer die Wahrheit in deinem eigenen Leben und in den Geschichten, die du erzählst, zu suchen. Bleibe dir selbst treu und verliere nie die Verbindung zu den tiefsten, schmerzhaftesten Teilen von dir selbst. Nur so kannst du echte Geschichten erzählen, die die Menschen wirklich erreichen. Sei stets offen fĂĽr die menschlichen AbgrĂĽnde, die du noch nicht vollständig verstehst.“ Es sind die WidersprĂĽche in uns, die uns zu dem machen, was wir sind. Der wahre Schmerz kommt nicht von den anderen, sondern von der Unfähigkeit, uns selbst zu erkennen.
© Gunny Catell 2025-02-17