Ich bin mir nicht sicher, wie ich dazu kam. Auf einmal hatte ich dieses dünne Büchlein in der Hand; daran erinnere ich mich aber genau. Ich verschlang es an einem verregneten Nachmittag in einem Satz, anstatt für eine BWL-Schularbeit zu lernen. Vermutlich bin ich prokrastinierend in das Zimmer meines Bruders gegangen, es stand leer, seit er unser Elternhaus in Richtung Wien verlassen hatte, und dort zog ich das Buch wahllos aus einem Wandregal heraus.
Ich war wohl sechzehn, siebzehn Jahre alt, Bücher las ich damals eigentlich kaum noch. Dabei habe ich als Kind sehr gern und sehr viel gelesen. Ganz klischeehaft unter der Bettdecke versteckt schmökerte ich bis spät in die Nacht hinein in Fantasyromanen und Sagenbüchern; bis heute stapeln sich “Der Herr der Ringe”, “Die Nibelungen” und griechische Myhten in einer Schublade unter meinem alten Kinderbett.
Unsicher bin ich mir nur, wohin es die „Die Farm der Tiere“ verschlagen hat. Es war das Buch, das ich (mutmaßlich) im Zimmer meines Bruders fand; diese Fabel von George Orwell, in der er beschreibt, wie Tiere auf einem Bauernhof eine kommunistische Revolution starten, die aber von den Schweinen gekapert und letztlich verraten wird.
Habe ich das Buch später nicht verliehen und nie zurück gekriegt? Eigentlich egal; weil ich habe jetzt eine eigene, englische Ausgabe von „Animal Farm“. Die kaufte ich heuer während meines Auslandsjahres auf Kreta, gebraucht um drei Euro fünfzig, aus purer Nostalgie heraus.
Denn nach meiner Hauptschulzeit kam mir die Fantasy abhanden. Wahrscheinlich fand ich sie nicht mehr cool, niemand in meiner neuen Schulklasse interessierte sich dafür. Und so begann ich, mich mehr für Fußball zu begeistern, und Fußballbücher brauchte ich dazu nicht, denn dafür gab es Online-Blogs. Still und stetig habe ich der Fantasy und damit gleichzeitig den Büchern entsagt; und so gewöhnte ich mir das Buchlesen ab.
Es ist ja viel leichter, sich etwas abzugewöhnen, als es sich dann wieder anzugewöhnen. Auch das Lesen. Und ich wusste nicht mehr, was ich lesen sollte.
Als ich aber an diesem Nachmittag „Die Farm der Tiere“ verschlang, ist etwas in mir passiert. Das Buch holte mich dort ab, wo ich war. Es erklärte mir Dinge, die ich woanders weder so gern gelesen noch verstanden hätte. Ein Mix aus Fantasie und Realität; ich denke, es weckte mein Interesse am politischen Buch.
Vor allem hat es in mir aber die Lust neu erweckt, überhaupt Bücher zu lesen. Langsam, sehr langsam, habe ich erneut zu lesen begonnen, und heute tu ich es gern und oft; während Corona las ich sogar wieder was von Orwell; “Mein Katalonien”. Lesen macht wieder Freude, macht wieder Spaß, macht auch wieder Sinn.
Die „Farm der Tiere“, und das ist für mich das Unglaubliche, schaffte zwei Dinge. Erstens zeigte es mir früh, wie rasch auch hohe Ideale von machhungrigen Schweinen ausgenutzt und pervertiert werden können. Und zweitens zeigte es mir, dass es Bücher gibt, die es wert sind, von mir entdeckt zu werden.
© Tobias Schmitzberger 2021-10-22