Entschlüsselt

Sonja M. Winkler

von Sonja M. Winkler

Story
Stainz 2023

Es ist sonnenklar, dass mein Traum mit dem Besuch des Schloss- und Schlüsselmuseums in Graz zu tun hat. Was unser Unbewusstes aus Tagesresten macht, versetzt mich immer wieder in Staunen. Was es alles speichert, von dem wir gar nicht wissen, dass es gespeichert wird. Wie es das Erlebte verschlüsselt. Ich führe Buch über meine Träume, und die detektivische Kleinarbeit des Entschlüsselns ist längst eine liebgewonnene Gewohnheit geworden.

Die Vorgeschichte: Nach einer Wanderetappe von 23 Kilometern erreichen G. und ich gegen 19 Uhr den Schilcherhof in Stainz, wo 2 Einzelzimmer für uns reserviert sind. Personal ist keines mehr im Haus. Unsere Zimmerschlüssel (mit Anhängern aus massivem Metall und den eingravierten Nummern 07 und 08) sind in einer Plastikbox am Eingang hinterlegt worden. G. entscheidet sich für Zimmer 08. Sie plagt sich beim Öffnen der Eingangstür. Das Türschloss klemmt. Mit meinem Schlüssel gelingt die Mission. Da hat wohl Geheimagent 007 seine Hände im Spiel.

Nach der Dusche zapp ich durch die TV-Kanäle und bleib bei Günther Jauch hängen. Bei Chilly/Chily/ Shilly/Chili con Carne muss ich nicht lange überlegen. Um 23 Uhr schalt ich den Fernseher aus und schlaf sofort ein.

Im Traum lieg ich auf der linken Bettseite eines Doppelbetts in einem Hotelzimmer, das genauso aussieht wie das, in dem ich mich befinde. Das Bett rechts ist auch überzogen, aber unbenutzt. Plötzlich überfällt mich ein eigenartiges Gefühl. Ich habe den Verdacht, dass sich noch jemand im Zimmer befindet. Das beunruhigt und ängstigt mich. Dann seh ich sie. Eine Frau. Geht auf das Bett zu. Mein erster Gedanke, der hochschießt: Wie hat sie sich Zutritt zu diesem Zimmer verschafft? Der Schlüssel steckt im Schloss.

Ich versuche, die Absicht der Frau in ihrem Gesicht zu lesen. Sie ist zart von Gestalt, etwa in meinem Alter. Kurzes, brünettes Haar. Ich kann nicht sagen, an wen sie mich erinnert. Sie ist eine Unbekannte. Aber sie kommt näher und näher. Panik erfasst mich. Da wach ich auf. Finde mich in Sitzposition, halte meine Hände schützend vors Gesicht und bin im Begriff zu schreien. Ich schreie aber nicht, aus Rücksicht zu G., die im Nebenzimmer schläft.

Für einen Augenblick sehe ich noch die Silhouette der Frau, ganz deutlich, so als stünde sie leibhaftig vor mir. Dann lösen sich ihre Körperkonturen auf. Es war nur ein Traumgespinst. Ich schau auf die Uhr. Es ist kurz vor drei.

Nach Tagen fällt mir ein, an wen mich die Traum-Frau erinnert. An Lisbeth, die bei der Wanderung zur Ennser Hütte mit von der Partie war. Lisbeth. Mit dem Namen fang ich zunächst wieder nichts an, bis die Hauptfigur des Romans in meiner Erinnerung auftaucht, den ich auf Anraten meiner Freundin E. erst vor kurzem gelesen hab. „Die Älteste“ von Thomas Sautner, ein esoterisches Märchen, wie ich fand, mit vorhersehbarem Ende. Jedenfalls hat sich „die Älteste“, die völlig zurückgezogen mitten im Wald in einem Wohnwagen haust, einen Weg gebahnt vom letzten Winkel des Waldviertels bis in ein steirisches 4-Sterne-Hotel. Lisbeth, eine Jenische, vertraut mit altüberlieferten Heilmethoden, ist in meinen Traumraum eingedrungen.

© Sonja M. Winkler 2023-09-15

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