Entschuldigung – nicht aufgeräumt

Theodor Leonhard

von Theodor Leonhard

Story

“Du musst entschuldigen, dass ich nicht aufgeräumt habe.” Mit diesen Worten bat Karin ihre Freundin Anna in ihre blitzblanke Wohnung, nachdem sie sich unter der Haustür herzlich begrüßt hatten.

Seit Wochen hatten sie sich nicht mehr gesehen. Anna war mit ihrer Familie aufs Land gezogen. Heute hatte sie in der Stadt Einiges zu erledigen. Das war schneller über die Bühne gegangen, als sie das befürchtet hatte. Besonders der Besuch bei ihrer Ärztin hatte sie in Hochstimmung versetzt. Es war alles in Ordnung. Jetzt wollte sie spontan auf einen Kaffee ihre Freundin sehen, ihre Erleichterung mit ihr teilen und ein wenig mit ihr plaudern. Sie freute sich so sehr darauf.

“Entschuldigung, dass ich nicht aufgeräumt habe. Aber ich habe nicht gewusst, dass du kommst!“ wiederholte Karin, als sie das Wohnzimmer betraten. Wie nebenbei drapierte sie die um etwa 30° verrutschten Sofakissen exakt parallel zur Sofakante.

In fröhlicher Stimmung und aufgedreht wie sie war, konterte ihre Freundin Anna mit der gewohnten Ironie von früher. Oft hatten sie darüber gelacht, wenn sie sich gegenseitig aufgezogen hatten: “Ja, da muss ich dir leider zustimmen. Bei dir sieht es schon noch schlimmer aus wie bei Hempels. Unter deinem Sofa liegt bestimmt zentimeterdick der Staub. Überhaupt solltest du mal wieder saugen. Die Betten im Schlafzimmer sind bestimmt auch noch nicht gemacht. Soll ich mal in der Küche schauen? Steht da nicht das Geschirr vom Frühstück im Spülbecken? Das hättest du längst in die Spülmaschine einräumen können. Und den Wäschetrockner, den hast du wahrscheinlich auch noch nicht ausgeräumt. Oh, meine unaufgeräumte Freundin!” Sie wusste ja, wie perfekt ihre Freundin in diesen Dingen war.

Dabei war die Stimmung von Karin schneller in den Keller gerutscht, als Anna ausgeredet hatte. “Was bildete sich Anna eigentlich ein? Kommt einfach so daher gelaufen und meint, sie könnte mir etwas vorwerfen. Mir! Hoffentlich bleibt sie nicht so lange. Auf eine solche Freundin kann ich verzichten“. Solche Gedanken gingen in Karin vor.

Eine ziemlich eisige Atmosphäre machte sich zwischen den Freundinnen breit. Gerade eine Tasse mit schwarzem Kaffee stellte Karin auf den Tisch, obwohl sie wusste, wie großen Wert ihre Freundin auf Milch und Zucker im Kaffee legte. Kekse waren gar nicht drin. Keine Viertelstunde und der Besuch war beendet, der Abschied alles andere als herzlich.

“Diese Schnepfe! Schlimmer als bei Hempels! Was geht die unser Wäschetrockner an?” mit tränenerstickter Stimme telefonierte Karin mit ihrer wirklich aller-aller-besten Freundin. “Du musst unbedingt gleich kommen. Ich bin vollkommen fertig und am Ende … Die braucht nie mehr zu kommen … Ich möchte gar nicht wissen, wie es bei der aussieht … Beeil dich!”

Nach einer ganzen halben Stunde fährt die aller-allerbeste Freundin endlich in den Hof.

“Gott sei Dank bist du endlich da. Komm rein!”, wird sie von Karin begrüßt. “Du musst entschuldigen, dass ich nicht aufgeräumt habe!”

© Theodor Leonhard 2021-08-12

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