Entsetzen

Nea Ransen

von Nea Ransen

Story

„Oh, nein!“ Adelbert ist schon wieder entsetzt. Auf seiner faltigen Haut hinterlassen die Sorgenfalten, lange nachdem die Mimik verschwunden ist, tiefe Furchen. Er erinnert mich immer an eine alte Ledercouch. Hätte er doch früher mit dem Rauchen aufgehört. Tja. Sich im Kreis drehen, jodeln, Holzhacken. Was auch immer Sie tun, bitte versuchen Sie, nicht an eine Zigarette zu denken, lenken Sie sich ab.

Das Rauchen hat er längst ad acta gelegt, denkt er. Aber die Sorgen, die ihn zurzeit umtreiben, kann er nicht einfach wegjodeln oder zerhacken. Sie sind sein ständiger Begleiter. Denn ganz tief in ihm drin, direkt neben mir, breitet sich ein unfassbarer Gestank aus, dem er nur so habhaft werden kann, indem er ihn als Sorge klassifiziert. Es muss psychosomatischen Ursprungs sein. Ebenso wie die Schuld, das Entsetzen, sie wollen ihn niederdrücken, sich immer weiter in ihm ausbreitend. Das, was ihn da runterzieht, seinen iPhone-Geierhals auf den Boden asphaltiert, ist etwas anderes. Etwas, von dem man sich nicht einfach so ablenken kann. Denn ich habe die Kontrolle über ihn ergriffen und lasse ihn das alles fühlen. Das Entsetzen, das ihn schon lange nicht mehr ergriffen hat, ist mit einem Schlag unaufhaltsam wieder da. In seinem Hals schwillt ein großer Kloß an, den er in klebriger Caprisonne ertränken will. Die S-Bahn kommt zum Stillstand. Von Kaffee bekommt er Herzrasen, von Süßgetränken einen Insulinschock. Deswegen bestellt er beide Getränke, mischt sie miteinander und fügt noch etwas braunen Zucker hinzu. Das ist Teil seines Rituals, das er immer dann begeht, wenn ich wieder zuschlage. Neben mir rumort es, während ich mir die Hände reibe und gespannt warte. Gleich geht es wieder los. Soll er hier schon aussteigen? 9 Uhr 17. Seit mehr als einer Viertelstunde sollte Adelbert in der Arbeit sein, aber er streicht nur seinen Anzug glatt und fährt einfach weiter. Ja, ich habe das veranlasst. Ich habe ihn auch dazu gezwungen, ein Kind mit einer großen Eistüte in der Hand zu schubsen und sich vorzudrängen. Er soll sich Erdmännchen im Zoo anschauen, die erschrecken immer so schön, wenn er seine Manteltasche öffnet, und so tut, als ziehe er sich aus. Heute wird er es nicht bei so tun als ob belassen. Seine Zeit ist gekommen. Und dann kribbelt es wieder in seinen Fingern, Entsetzen. Die großen Augen der Leute, wenn sie sehen, was er gerade wirklich tut. Entgeisterte Gesichtsausdrücke, Kopfschütteln, ungläubiges Schnaufen, all das ist sein Applaus. Er ballt seine dicken Finger zur Faust, nein er fasst jetzt sicher nicht an seinen Gürtel. Er versucht, sich dem Drang zu widersetzen. Doch das Klicken der Schnalle legt einen Schalter in seinem Kopf um, Jodeln, im Kreis drehen, Holzhacken. Lenk dich ab! Unsichtbarkeit, seine größte Angst. Ich befeuere ihn weiter. Willst du nicht, dass die Leute dich sehen? Die Hitze steigt ihm zu Kopf. Und was macht Adelbert? Der Idiot fällt einfach um.

Der eifrige Assistenzarzt ist entsetzt, so etwas hat er noch nie gesehen. Er beugt sich mit seiner runden Brille direkt über mich, ballt die Fäuste, berührt mich nicht. Starrt. Das machen sie immer, wenn sie mich zum ersten Mal sehen. Ich fresse mich nicht nur durch die Zellen und wuchere im Körper, am liebsten zehre ich vom Geist und lasse ihn entsetzliche Dinge tun, bis ich Körper und Geist beherrsche. Seelentumor

© Nea Ransen 2024-01-02

Genres
Romane & Erzählungen