Epilog

Michelle Paschilke

von Michelle Paschilke

Story

Mira saß im Auto. Sie ging noch einmal die einzelnen Dokumente durch, die sie für ihre Reise brauchte. Kreditkarte, Visum, internationaler Führerschein, Krankenversicherung, die Jobzusage sowie die Buchungsbestätigung ihrer ersten Unterkunft. Sie hatte alles auf der Liste erledigt. Jetzt hatte sie noch einen anderen Termin, bevor sie Deutschland für eine längere Zeit verlassen würde. Sie schaltete das Radio ein. Es lief Wake Me Up von Avicii. Sie machte lauter und summte mit. Eine Viertelstunde später bog sie in die Einfahrt ein und parkte ihr Auto. Sie nahm die kleine, schwarze Schachtel aus dem Karton heraus, der neben ihr auf dem Beifahrersitz stand. Dann ging sie zum Tor und öffnete es. Es war still um sie herum. Sie folgte dem Weg, bis sie auf der anderen Seite des Friedhofs angekommen war. Dort bog sie noch einmal in einen kleineren Weg ab und blieb schließlich stehen. Luke Meren stand in geschwungener Innenschrift auf dem Grabstein. »Du wunderst dich bestimmt, warum ich so lange nicht da war.« Mira schaute sich um. Sie war allein. »Tut mir leid, dass ich nicht auf deiner Beerdigung war. Ich hätte es nicht ertragen, deine Familie und deine Freunde so traurig zu sehen. Ich wollte mich persönlich von dir verabschieden.« Sie hob den Kopf und schaute in den wolkenverhangenen Himmel. »In den letzten Monaten war viel los. Ist komisch ohne Schule.« Und ohne dich. Sie öffnete die Schachtel und holte ein silbernes Schloss mit Schlüssel heraus. Es war der Schlüssel, den Luke Mira vor der Abifahrt geschenkt hatte. Er war vom Sofa gefallen und Dexter hatte ihn ein paar Wochen später beim Spielen gefunden. Lukes Mam hatte den Schlüssel in sein Zimmer gebracht. Dabei war ihr der Karton unter Lukes Bett aufgefallen. Sie hatte ihn hervorgeholt und gesehen, dass er beschriftet war. Darin befand sich das silberne Schloss. Einen Tag später hatte sie Mira den Karton vor die Tür gestellt. Mira nahm das Schloss, steckte den Schlüssel hinein und drehte ihn herum. Es klickte und das Schloss sprang auf. Sie blickte nach oben. »Was auch immer du dir dabei gedacht hast, Luke. Ich habe dich nach unserer Trennung gehen lassen … und jetzt musst du mich gehen lassen.« Sie merkte, wie ein leichter Windzug sie streifte. Sie warf einen letzten Blick auf das Grab und verabschiedete sich. Ohne sich noch einmal umzudrehen, lief sie den Weg entlang zurück zum Parkplatz.

Wenig später betrat Mira die große Halle des Flughafens. Sie trug einen großen Rucksack auf dem Rücken und einen kleinen in der Hand. Vicky, ihre Mam und Michael begleiteten sie zur Gepäckabgabe. Dort verabschiedeten sie sich von ihr. »Hab ganz viel Spaß!«, rief Vicky und Michael stimmte ihr zu. »Und schreib auch mal.« Miras Mam umarmte sie fest. »Das werd ich.« Sie umarmte Vicky und Michael, dann schaute sie zur Fluganzeige-Tafel. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Flug 027 nach New York-J.F.Kennedy um 14:15 Uhr von Gate 10. Mira lief los. Ihr Rucksack war schwer. Aber nicht schwer genug, um sie in die Knie zu zwingen. Sie hatte mal wieder zu viele Klamotten mitgenommen. Gate 10 also. Sie gab ihr Gepäck am Schalter ab und winkte ihrer Familie zum Abschied. Dann verschwand sie hinter der Sicherheitskontrolle.    


© Michelle Paschilke 2023-09-05

Genres
Romane & Erzählungen