von Sandra Andrés
Kaia, September 2005
Es war ein schönes Restaurant, stimmungsvoll. Gedämpftes Licht, leise Klaviermusik, Kellner, die den Wein in Flaschen mit umwickelter Serviette servierten. Kaia hatte dem Abendessen spontan zugestimmt, ohne zu wissen, was sie erwarten würde. Als sie Charles am Flughafen ihre E-Mail-Adresse gegeben hatte, hatte sie nicht damit gerechnet, dass er sich wirklich melden würde. Sie gab sie ihm, weil sie sich geschmeichelt fühlte, sie es schön fand, nach so langer Zeit endlich wieder mal zu flirten und er auf den ersten Blick charmant und gutaussehend war.
Dann, an ihrem zweiten Morgen in Paris, kam die E-Mail, während sie ganz touristisch und vorhersehbar bei einem Café au lait und einem Croissant in Montmartre saß. Er fragte, ob sie mit ihm essen gehen würde, und sie, berauscht von Sacre Coeur und den Künstlern und dem Duft nach Schokolade und Crêpes, antwortete, ohne nachzudenken: Ja, gerne.
Jetzt saß er ihr also gegenüber, sah ihr tief in die Augen, während seine Finger über den Rand des Weinglases fuhren und hielt ihr mit der freien Hand eine Schnecke entgegen.
„Escargot?“, fragte er, und sie fand, es klang viel besser als es aussah. Gerade hatte das Tierchen noch auf einem leuchtend grünen Salatblatt geruht, wo es vermutlich lieber sein Leben verbracht hätte, als nun mit Sauce übersät darauf serviert zu werden.
Kaia warf einen langen, skeptischen Blick auf die Schnecke. Das braune Haus hatte eine wunderbar marmorierte Musterung. Das an sich recht glitschige Tier war gar nicht mehr zu sehen, verschwand gänzlich unter etwas, das aussah wie Frischkäse mit Kräutern. Sie hatte Charles dabei zugesehen, wie er das Fleisch mit einer speziellen Gabel herausgezogen hatte. Es schien nicht so schwierig zu sein, anscheinend schmeckten sie ihm auch. Ihr war klar, dass es vielmehr die Vorstellung dessen war, was sich darunter verbarg, die sie überwinden musste. Der Gedanke daran, dass sie früher die gleichen Viecher aus dem Salatbeet ihres Großvaters gefischt hatte, war schwer abzuschütteln. Aber genau darum ging es doch bei ihrem Aufenthalt in Paris. Deshalb war sie überhaupt erst gekommen. Nicht, um touristisch und vorhersehbar zu sein, sondern, um alte Gewohnheiten abzuschütteln, die zerbrochene, langweilige Kaia hinter sich zu lassen, die so sehr in ihren Routinen feststeckte, in Fehlern der Vergangenheit. Paris war eine neue Chance, ein neues Leben, eine neue, mutige Kaia. Niemand kannte sie hier, und die Stadt war voller Abenteuer und Möglichkeiten.
„Oui“, antwortete sie also, nahm ihm die Schnecke aus der Hand, griff nach der Gabel, zog das Fleisch heraus und schob es sich in den Mund. Bitteschön, ging doch. Schmeckte auch gar nicht so glitschig. Tatsächlich nach Kräutern, nach Zitrone und Butter und Knoblauch. Sie nahm gleich noch eine. Charles grinste. Sie lächelte zurück, während sie nach seiner Hand griff.
Er würde ein hervorragendes Dessert abgeben.
© Sandra Andrés 2021-07-16