Er – eine Chance

Sarah Heddergott

von Sarah Heddergott

Story

Schon wieder. Dieses permanente Verkehrsaufkommen am Nachmittag raubt mir noch den letzten Nerv. Ungeduldig trommele ich auf das Lenkrad und schiele immer wieder zur Uhr: 16:58 Uhr. Und dann auf mein Navi: Noch fünf Kilometer. In diesem Tempo werde ich es niemals pünktlich zu meinem Date schaffen, dabei war es mir heute so wichtig, obwohl ich im Grunde genommen nichts über sie weiß. Ich habe ein Bild, das ja, und dieses Bild ist auch der Grund, warum ich heute nichts falsch machen wollte. Dabei sieht sie nur ganz ok aus, nichts Besonderes. Mein Freund wollte mir im Vorfeld schon abraten, mich überhaupt mit ihr zu verabreden: „Hast du sie dir eigentlich angesehen? Die ist weit unter deiner Liga, du könntest jede haben.“ Daraufhin habe ich nur genickt: „Ich habe sie mir genau angesehen.“ Und das stimmt auch. Von den gutaussehenden Frauen habe ich schon dutzende getroffen, doch sie waren mehr an ihrem Äußeren interessiert als an mir. Ich bin auf der Suche nach inneren Werten und heute ist das vermutlich meine einzige Chance, genau das zu finden, würden sich die Autos vor mir nur etwas zügiger bewegen. Noch ein Kilometer. Fast da. Doch als ich auf die Uhr sehe, bekomme ich einen Schreck: 17:15 Uhr. Sie wird schon auf mich warten. Schnell tippe ich eine Nachricht, während ich nervös auf das Umschalten der Ampel warte. Als ich auf Senden drücke, sehe ich grün und gebe Gas. Ich finde zum Glück sofort einen Parkplatz keine hundert Meter vom Becky’s entfernt. Sofort stiehlt sich ein Lächeln auf meine Lippen. Was habe ich hier nicht schon alles erlebt, ich bin hier quasi groß geworden. Doch das warme Gefühl der Erinnerung verfliegt, als ich die Tür aufstoße, den Raum absuche und keinen einzigen Gast sehe. Meine ganzen Erwartungen lösen sich binnen einer Millisekunde in Luft auf. Niedergeschlagen lasse ich mich auf einen Stuhl sinken. Sofort taucht Becky mit einem Latte neben mir auf: „Raus mit der Sprache, was ist los?“ Ich seufze: „Enttäuschte Erwartungen, das Übliche.“ „Warst du schon wieder auf einem Date?“ Ich mache eine allumfassende Handbewegung: „Wie du siehst, ist es nicht dazu gekommen.“ Plötzlich ziert ein wissendes Lächeln ihr Gesicht: „Ach, die genervte Frau von vorhin war dein Date?“ Meine Augen werden riesig: „Du hast sie gesehen?“ Sie war tatsächlich hier und wollte sich mit mir treffen. „Ja, aber nach einigen Minuten ist sie einfach aufgesprungen und gegangen.“ „Wann war das?“, frage ich, obwohl ich eigentlich wissen will: Wie lange hat sie auf mich gewartet? Becky überlegt: „Ich würde sagen, vor fünf Minuten.“ Mir bleibt der Mund offen stehen: Vor fünf Minuten habe ich ihr die SMS geschrieben und dann ist sie gegangen? Viel Wert kann ich ihr nicht gewesen sein. Warum hat sie sich dann überhaupt mit mir verabredet? Auf dem Bild sah sie nicht so aus, als hätte sie noch massig weitere Kandidaten. Aber eins ist sicher: Die Person, auf die ich sehnsüchtig gewartet habe, ist sie definitiv nicht. Ruckartig werde ich aus meinen Überlegungen gerissen: „Erde an Tobi, bist du noch da?“ „Sehr witzig“, ich schüttele den Kopf, „aber ja, ich habe meine Enttäuschung überwunden. Das Leben kann weitergehen.“ Als Becky lächelt, erscheinen ihre Grübchen, die mich immer noch an unsere friedlichen Abende vorm Kamin erinnern: „Das ist mein Junge“, sie steht auf und klopft mir mütterlich auf die Schulter: „Trink deinen Latte.“ Wie immer hebe ich bei diesen Worten meine Hand und salutiere: „Zu Befehl.“

© Sarah Heddergott 2023-08-06

Genres
Romane & Erzählungen
Stimmung
Emotional, Unbeschwert, Entspannend