von Sonja M. Winkler
Das Spinnennetz glitzert. Gesponnen zwischen zwei eigensinnigen Ästen, die aus der Hecke ragen, lässt es Regentropfen im Gänsemarsch auf dem zarten Gespinst seiltanzen. Alljährlich diese Übergangszeit, die Altweibersommer heißt. Oder Nachsommer.
Übrigens ein von mir nie zu Ende gelesenes Buch, Stifters „Nachsommer“. Die langatmigen Naturbeschreibungen fand ich betulich, damals als 20-Jährige. Dieser Roman stand auf der elendslangen Leseliste für die Lehramtsprüfung. Mich hat jedoch „Brigitta“ mehr in den Bann gezogen. Allein schon der erste Satz hatte eine ungemeine Sogwirkung: „Es gibt oft Dinge und Beziehungen in dem menschlichen Leben, die uns nicht sogleich klar sind und deren Grund wir nicht in Schnelligkeit hervorzuziehen vermögen.“
Geduld und Wartenkönnen ist vonnöten, das lehrt uns die Erzählung, bis wir das rätselhafte Beziehungsgeflecht zwischen dem Major und Brigitta entwirrt haben und verstehen, weshalb ihn einst die innere Schönheit dieser äußerlich als hässlich geltenden Frau angezogen hat, weshalb er durch leidenschaftliche Verstrickungen Irrwege im Leben hat gehen müssen, bis die beiden als Paar im Alter schließlich wieder zueinanderfinden. Die feuchten Augen, die unsere Deutsch-Professorin bekam, als sie uns diese Erzählung schmackhaft machte, entgingen mir nicht.
Stifter war ein Herbstkind. Sein Geburtstag jährt sich am 23. Oktober zum 215. Male. Er hatte einen Hang zu Schwermut und starb von eigener Hand, gut 60-jährig, indem er sich die Halsschlagader aufschnitt.
SAD, so die Abkürzung für Seasonal Affective Disorder, ist die sogenannte „Winterdepression“. Der Serotonin-Melatonin-Haushalt gerät aus dem Gleichgewicht, weil die Tage kürzer werden.
Mich zieht’s hinaus in die Natur, denn der Herbst liebt das Farbenspiel so wie ich. Die Bäume sind noch gelb und grün gefleckt. Irgendwann wird sie ein Sonnentag in glänzendes Gold tauchen, und das Laub auf den ausgetretenen Pfaden wird ein hellbraun gesprenkelter Teppich sein.
Der Herbst treibt es bunt wie ein Kaleidoskop. Ich nehme meines dieser Tage oft zur Hand. Ich hab es selbst gebastelt, in einem Workshop, von einer kundigen Person angeleitet. Ein faszinierendes Spielzeug, nicht nur für Kinder. Auch für Erwachsene. Der Erfinder des Kaleidoskops sah es als „universelles philosophisches Instrument“. Angeblich hat der fast 70-jährige Goethe einen Freund brieflich gebeten, ihm eine neuerdings so beliebte „Tubus-Röhre“ zu besorgen, die damals um 1820 rasche Verbreitung fand.
Was wird Goethe wohl damit getan haben? Dasselbe wie jedes Kind und ich auch. Ein Auge aufs Guckloch drücken. Das Kaleidoskop himmelwärts ausrichten, langsam drehen und die prächtigsten Ornamente bestaunen, die das Auge je gesehen hat. Vielleicht über die universelle Harmonie sinnieren oder über Schönheit. Die, die man mit den Augen sieht, und die, die nur das Herz erkennt.
Ich werde wieder „Brigitta“ lesen, zum x-ten Male.
© Sonja M. Winkler 2020-10-17