Erfahrungen

Vor ein paar Jahren, wenn ich ganz ehrlich bin, sind es gewiss fünf, saß ich mit einem Mann in einem Kaffee in der Innenstadt. Wir kannten uns kaum, der Freund des Freundes einer Freundin. Er hatte gepflegte Haare und Fingernägel und eine sehr ruhige Stimme. Für die Liebe auf den ersten Blick geeignet, würde ein Romantiker sagen. Und wir redeten über Gott und die Welt und zurückliegende Beziehungen und da sagte er, dass er immer derjenige gewesen sei, der jemanden verlassen hätte, nie andersherum. Und ich war irritiert und fragte nach.

“Aber du warst schon mal unglücklich verliebt, oder?”

Er wendete sein unschuldiges Gesicht dem Ausblick zu, den das Fenster eröffnete, und antwortete: “Nein, eigentlich nicht.”

“Nicht mal in ein Mädchen in der Schule?”

“Nein.”

Ich war fasziniert und verwundert darüber, dass es so etwas gibt und dass so jemand Kurioses vor mir sitzt, jemand, der immer gut auf sich aufgepasst hat, sich immer rechtzeitig vor Schmerz und Enttäuschung in Sicherheit gebracht hat, der prinzipiell nur gesunde Portionen vom Leben nimmt und um alles andere einen großen Bogen macht.

Und ich stellte mir vor, dass sich unter seinem sauberen, weißen Hemd, eingearbeitet in die Haut, ein Reißverschluss befindet, hinter dem Kabel und Motoren sitzen, die beständig für die perfekte Illusion menschlichen Lebens sorgen.

Abgesehen von diesem seltsamen Zwischenfall achte ich penibel darauf, dass ich nur Menschen in meinen Nahbereich lasse, die ausgiebige Erfahrungen darin gesammelt haben, in den blutigen, schmerzhaften Abgründen des menschlichen Daseins herum zu waten und mindestens einen Bachelor in “Leid und Irrsinn” gemacht haben.

Irgendwie glaube ich daran, dass wir als Menschen eine gewisse Verpflichtung haben, möglichst viele verschiedene Erfahrungen zu machen. Gute wie schlechte. Weil jede einzelne Erfahrung, sowie jeder Mensch, den wir näher an uns heranlassen, uns breiter und tiefer macht, uns in jede mögliche Richtung ausdehnt und so unser Verständnis, unser Mitgefühl und unsere Demut vor diesem kleinen Leben vergrößert, das uns gegeben ist.