Erinnerung an Roger Willemsen

Jürgen Heimlich

von Jürgen Heimlich

Story

„Sie sind ein Grübler“.

Ich weiß nicht mehr, wieso ich Roger Willemsen die Frage stellte, wie er mich als Mensch einschätzt. Am 24. Oktober 2002 hatte ich das große Vergnügen, im ungewöhnlichen Antiquariat „Buch und Wein“ eine Lesung von Roger Willemsen aus seiner „Deutschlandreise“ zu genießen. Die Erinnerung an die Lesung und unser anschließendes Gespräch ist mir noch sehr gut in Erinnerung.

Roger Willemsen war ein Sprachakrobat. Er vermochte es, so fesselnd zu erzählen, dass die Zuhörer buchstäblich seine Erfahrungen teilten. Und er sprach so, wie er schrieb. Unser vielleicht zehn Minuten dauerndes Gespräch verdeutlichte, wie er mit Menschen umging. Er ließ sich auf mich ein und als er erkannte, dass ich ein angenehmer Zeitgenosse bin, sagte er mir sogar, dass ihm „Wetten, dass..?“ eine Zeit lang gefallen habe. Als aber nicht mehr die Wetten und Wettkandidaten, sondern die illustren Gäste im Mittelpunkt standen, hatte er die Lust an der Show verloren.

Seine Lesung war mehr eine intensive Mitteilung von Erinnerungen. Ich glaube, dass er aus „Deutschlandreise“ am Ende nur wenig vorgelesen hat. So war er! Er war in erster Linie ein Erzähler von Geschichten. Und er konnte das dermaßen gut, dass ich als Zuhörer hingerissen war. Eine Geschichte hat mich besonders fasziniert. Er erzählte von seinem ersten Joint, den er im Alter von 17 Jahren geraucht hatte. Das war aber nur die Einleitung der Geschichte. Hernach bot ihm sein Freund einen Keks an. Und daraufhin beschlossen die beiden, Schach zu spielen. Sie spielten mit ganz eigenen Regeln, die sie während des Spiels stetig neu erfanden und sich daran über einen kurzen Zeitraum hielten. Die Figuren konnten hin und her springen, wie sie wollten. Mal so, mal so. Und Roger Willemsen glaubte die ganze Zeit, dass sein Freund unter seinem Sessel durchkriechen wollte, ohne den Boden zu berühren. So ging es einige Stunden dahin. Erst am Tag darauf erfuhr er, dass es sich bei dem Keks um eine halluzinogene Droge gehandelt habe.

Das Antiquariat befand sich in der Schäffergasse 13a. Richard Jurst, der Antiquar, war über einige Jahre Veranstalter von Lesungen. Er betrieb kein Antiquariat im üblichen Sinne. Denn es war österreichische Literatur des 20. Jahrhunderts, die durchstöbert werden konnte. Und es gab eben Wein. Zudem einen Kulturverein. Es war ein freundlicher, heller Raum. Und die Anzahl der Gäste war meiner Erinnerung nach auf 50 Personen beschränkt. Schade, dass es das Antiquariat nicht mehr gibt. Und sehr traurig, dass Roger Willemsen am 7. Februar 2016 im Alter von nur 60 Jahren verstarb. Er hatte noch so viel zu sagen. Sein Bestreben war es, Menschen aufzurütteln und ihnen die Schönheit des Lebens zu zeigen. Er war ein Pessimist und doch lebte er sehr gerne. Er hat eine große Lücke hinterlassen. Menschen wie ihn bräuchte es auf dieser Welt viele. Dann wäre die Welt eine ganz Andere, Fröhlichere, Vernünftigere. Heute grüble ich nicht mehr so viel. Hingegen hinterfrage ich mehr.

© Jürgen Heimlich 2020-05-01

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