Erinnerung eines Mädchens

Silvia Peiker

von Silvia Peiker

Story

Wollten wir nicht alle irgendwann irgendwo dazugehören? Unser Drang zur Herdenbildung regt sich schon früh im Kindergarten, später im Klassenverband, in Cliquen oder Vereinen und setzt sich im Berufsleben fort. Die Biografin, die in ihrem Werk in der Rolle der Protagonistin um einen Platz in der Gemeinschaft im Bund der Erzieher und Erzieherinnen einer nordfranzösischen Ferienkolonie kämpft, bildet keine Ausnahme. Doch das böse Erwachen der 18-Jährigen, deren Eltern in der Provinz einen kleinen Krämerladen führen, in der nüchternen Realität des Beurteiltwerdens der anderen treibt sie in die Bulimie, grenzt sie aus.

Schonungslos erzählt die Nobelpreisträgerin für Literatur, deren Libido im Sommer 1958 wachgeküsst werden möchte, von ihren ersten sexuellen Erfahrungen mit dem Leiter des Camps während einer Party und von der darauffolgenden Nacht mit einem anderen Kollegen. Diese Ausschweifungen stempelt sie in den Augen des Betreuerteams zum leichten Mädchen, das mit Verachtung und Spott bestraft wird. Ein Stigma, das man der naiven Frau verpasst, während das ungezügelte Verhalten der jungen Männer toleriert wird. Der Bruch des Tabus verfolgt die Protagonistin, die von sich selbst meist in der dritten Person schreibt, auch nach Ende der Ferienbetreuung und bestimmt lange Zeit ihr Leben.

Annie Ernaux, deren Blick sich ohne ihre dicken Brillengläser in der Leere verliert, beäugt sich selbstkritisch im Spiegel der Vergangenheit, klammert sich letztendlich an den Stift des Erzählens und befreit sich mithilfe des Schreibens von verstörenden Empfindungen wie Scham und Hilflosigkeit.
Das Gefühl, nicht gut genug zu sein, nicht dazuzugehören, lässt sie Klassenunterschiede, wie Arm und Reich, die Diskrepanz zwischen den Geschlechtern, was Männern zugebilligt, aber Frauen gleichzeitig verwehrt wird, mit brutaler Vehemenz am eigenen Leib erfahren. Indem sie diese für sie prägende Lebensphase wie einen erst zu entwickelnden Film aufrollt, lernen die Rezipienten eine Suchende kennen, die ins gleißende Licht der Scheinwerfer tappt und ihre Fehltritte unbarmherzig an den Pranger stellt.

Bestärkt durch feministische Philosophinnen wie Simone de Beauvoir schärft sie, losgelöst von der eigenen Identität, ihren Blick für die Bedürfnisse eines mangels Reife verunsicherten Mädchens, das sich in den von der Gesellschaft modifizierten Fallstricken der 60er Jahre verfängt und erst allmählich den Mut findet, die Fesseln zu lösen. Ernaux‘ Worte fliegen beinahe atemlos übers Papier, ihre Eindringlichkeit reißt die Lesenden in einen Strudel der Selbstfindung im wogenden Meer der Empathie.


Eigenes Foto



© Silvia Peiker 2025-02-03

Genres
Biografien
Stimmung
Emotional, Reflektierend
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