Erinnerung ist eine Art der Begegnung

Hannes Stuber

von Hannes Stuber

Story

1930 – 2008

Sie wurde mitten in der Großen Depression geboren, ging zur Schule vor und während des Zweiten Weltkriegs und beendete dieselbe zu Kriegsende. Es war bestimmt keine leichte Zeit, Kind zu sein. Und sie bekam Rachitis. Sie durfte keinen Beruf erlernen, weil der Vater, ein selbständiger Sattler in einem Weinviertler Dorf, sie, das Einzelkind, im Haushalt brauchte, denn ihre Mutter wurde nach dem Krieg krank und bettlägrig und starb an Krebs, als Hildegard zwanzig Jahre alt war. Nun war sie mit dem Vater allein.

Mit dreiundzwanzig heiratete sie und zog mit ihrem Mann Hans in ein gemietetes Haus im Dorf. Hans arbeitete als Tischler im Dorf. Ihrem Vater war der Zugereiste nicht recht. Darum mussten Hans und Hildegard ohne Aufgebot und Hochzeitsfeier in Mariazell heiraten.

Eines Sonntagabends waren Hildegard und ihr Mann im Nachbardorf im Kino gewesen und kehrten gegen zwanzig Uhr mit dem Bus zurück. Zufällig kam ihr Vater an der Haltestelle vorbei. Als er hörte, dass sie im Kino gewesen war, klatschte er ihr vor allen Leuten eine Ohrfeige ins Gesicht: Eine anständige schwangere Frau ging nicht so spät ins Kino! Das erste Kind, also ich, war schon unterwegs. Wegen Hildegards Rachitis kam ich per Kaiserschnitt. Anderthalb Jahre nach dem ersten Kaiserschnitt erfolgte der zweite, auf derselben Narbe. Zwei Jahre darauf der dritte Bub und dritte Schnitt. Nun rieten ihr die Ärzte, kein Kind mehr zu bekommen.

Der Vater war erst dreißig, er hatte seine wilden Jahre, suchte sich Freundinnen. Als die Kinder drei, fünf und sieben waren, verließ er die Familie für eine andere Frau. Für ihn war das neue Leben in Wien wunderbar, er fuhr einen BMW und an die Adria auf Urlaub. Wir sahen ihn nie, weder zu Geburtstagen noch zu Ostern oder zu Weihnachten. Ohne das halbe Schwein, das wir jeden Herbst vom griesgrämigen Großvater bekamen, wären wir vielleicht verhungert.

Harte schwere Jahre für eine Mutter. Ich erinnere mich, dass sie oft sagte: „Im nächsten Leben werde ich ein Mann!“ Da dachte ich an den Vater, der sich subtrahiert und das Leben leicht gemacht hatte, ohne Verantwortung für seine Kinder.

Mit achtzehn verließ ich das Elternhaus und zog nach Wien. Der Kleine lernte Koch und verschwand mit neunzehn nach Kalifornien, der Mittlere blieb zu Hause. Meine Mutter hatte nie wieder einen Partner. Einmal lernte sie einen Mann aus einem Nachbardorf kennen, der sie besuchte. Bald hieß es im Dorf, dass dessen Frau noch keine zwölf Monate tot wäre: Skandal! Mutter beendete die aufkeimende Beziehung. Der Dorftratsch siegte über ihre Gefühle.

In der Pension besuchte sie zweimal den Sohn in Kalifornien. Viel Freude hatte sie mit ihren fünf Enkelkindern, das sechste lernte sie nie kennen. Sie konnte trotz allem noch herzlich lachen. Das Ende kam – wie bei ihrem Vater – unerwartet, über Nacht, ohne Krankheit, ohne ersichtlichen Grund.

Das Begräbnis war der traurigste Tag meines Lebens. Ich wünschte ihr, dass sie als Mann wiedergeboren werden sollte.

© Hannes Stuber 2020-10-15

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