von MMWGO
Ich kam in das Dorf über Osten. Seit meinem letzten Besuch waren einige Jahre vergangen, aber es war alles noch so, wie es immer gewesen war. Ich erinnerte mich an die unzähligen Nachmittage, die ich auf den Feldern verbracht hatte. Ich saß dort stundenlang und zeichnete, zeichnet alles, was da um mich herum war. Meine Zeichnungen waren voll von Insekten und Pflanzen. Diese Werke waren kein Abbild der Realität. In ihnen wehten Käfer im Wind, die im Himmel verwurzelt waren und Pflanzen schwirrten durch die Erde. Meine Zeichnungen, sie waren alle schwarz-weiße Bleistiftzeichnungen, waren ein Abbild meiner inneren Realität.
Damals muss ich zehn oder elf Jahre alt gewesen sein, als meine Eltern gestorben sind. Mit ihnen ist auch der glückliche Teil meiner Kindheit gestorben. Ich zog zu meiner Tante in jenes Dorf und damals wie heute kam ich über Osten. Aus dem Osten kam ich, hunderte Kilometer entfernt von dem Dorf, aus einer Stadt, aus einem anderen Land. Ich musste zu meiner Tante ziehen, weil sie die letzte verbleiben Verwandte war und somit meine letzte Hoffnung. Ein Kinderheim kam für mich damals nicht infrage. Damals sagte ich dem Mann vom Amt, das ich lieber sterben würde, als in solch eine Einrichtung zu ziehen. Und so kam ich in diesen Ort.
Aber dieser Ort wurde niemals meine Heimat. Er wurde zu meiner persönlichen Hölle. Meine Tante arbeitet auf einem Bauernhof und lebte dort in einer kleinen Wohnung. Sie war von morgens bis abends beschäftig, weshalb ich nach der Schule sehr viel Zeit übrighatte. Anfangs behandelten mich die anderen Kinder auf dem Dorf ganz normal, aber ich mochte ihre Spiele nicht und ich war schon immer verschlossen gewesen. Viel lieber war ich alleine. Doch das wollten die Kinder nicht verstehen. Für sie war ich der Außerirdische, der seltsame Städter, ein fremdes Etwas, dass nicht in ihre Welt passte. Darum wandelte sich die anfängliche Freundlichkeit in Ablehnung. Sie machten Witze über meinen ausländischen Dialekt, lachten mich aus, wenn ich etwas nicht verstand. Häufig wurde ich auch grundlos geschlagen und geprügelt. Meine Tante bekam dies nicht mit, denn ich erzählte es nicht. Vieleicht hätten diese Kinder mich verstanden, wenn es ihnen möglich gewesen wäre mein Gedanken zu lesen.
Ich war ein Heimatloser, der durch das Schicksal in eine fremde Welt gerissen wurde. In dieser Welt, die ihm etwas Angst machte, wollte und konnte sich mein damaliges Ich nicht zurechtfinden. Deshalb zog es mich in die Einsamkeit der Natur.
Trotz all der Qualen, die ich wegen der Anderen ertragen musste, schaffte ich es auf ein Internat zu kommen. Erst dort überwand ich meine Ängste. An dem Tag, an dem ich das Dorf verließ, schwor ich nie mehr in dieses Kaff zurückzukommen. Über alles, was ich vor dem Internat erlebt hatte, leget ich den Mantel des Schweigens und Vergessens.
Bis zum heutigen Tag, den meine Tante war gestorben. Als ich die vertrauten Umrisse wiedersah, kehrte die Erinnerung der Tränen wieder zurück.
© MMWGO 2021-04-12