Das steht auf einer Postkarte, die an unser rustikales Kredenzfensterchen geklemmt ist. Inzwischen sind dort viele Postkarten aus aller Welt und Erna ist etwas ins Hintertreffen geraten. Doch immer wieder, wenn ich ihren Lockenwicklerkopf sehe, erfreue ich mich an diesem aus der Zeit gefallenen Motiv.
Eine ältere Dame mit schwabbeligen Oberarmen in einem leichten rosa Sommerkleidchen am Balkong. Drei längliche Kistln mit Begonien. Eine Hand am Kistl, der Blick nach innen gerichtet. Das Kinn ist doppelt ausgeführt. Über dem verinnerlichten Antlitz eine ergraute Betong-Lockenpracht, die Lockenwickler erst kurz vor dem Fototermin aus den Haaren entfernt. Noch nicht durchgebürstet.
Diese Erna mag ich schon sehr lange. Den Grund dafür kann ich gar nicht so genau sagen. Sie ist für mich der mütterliche, mehr sogar noch der “tantliche” Typ. Tante Erna. So könnte eine meiner 6 Tanten väterlicherseits ausgesehen haben, vorausgesetzt sie hätte in eine deutsche Arbeiterschicht der 1950er Jahre hineingeheiratet und wäre nun durch ihren schwer schuftenden Mann, Männe, den Kumpel aus dem Ruhrpott, auf direktem Weg in die Mittelschicht. Das leichte, sommerliche Musselin(?)-Kleidchen lässt mich solches vermuten. Und dass sie einen Balkong hat. Mit Lockenwicklern. Und wahrscheinlich einen Neffen, der Sonntag nachmittags des öfteren auf ein Tässchen vorbeischaute bei Tante Erna und Onkel Heinrich. An dem Tag mit seinem ersten Fotoapparat. Tante Erna, stell dich doch mal aufn Balkong, zu deinn schönnn Begonien…
Tante Ernas Mann hatte für sich und sein Ernachen einen Platz an der Sonne ergattert. Ein ganzes bundesdeutsches Familienpanorama eröffnet sich mir hier. Ich kann den Geruch von Eisbein mit Sauerkraut erschnuppern durch die offene Balkongtüre. Vati-Männe sitzt mit BILD und nem lecker Likörschen in seinn Puschn zufrieden beim nachmittäglichen Käffchen, als Neffe Karl-Theodor an der Haustür läutet und stolz seine neue Kamera vorführt. Tante Ernas Blick ins Narrenkastl bleibt rätselhaft. Er ist nicht auf ihren ganzen Stolz, die Begonien, gerichtet, auch nicht auf ihren unsichtbaren fotografierenden Neffen. Er schweift ab. Tief nach innen. Was sie da drin sah, würde ich zu gerne wissen. Aber es ist zu spät.
Die Postkarte stammt, wie ich beim Umdrehen lese, aus dem April 1995. Ich kann erstaunlicherweise meine eigene Schrift noch entziffern, gelingt mir heute schon nach ein paar Tagen nicht mehr. Ich schrieb damals an meinen Bruder: …damit du an deinem 42. Geburtstag nicht alleine bist, habe ich Tante Erna eingeladen. (Ich selber war nämlich in dieser Woche auf einem Betriebsausflug in Marokko.)
Tante Erna war auf dem Foto etwa Mitte/Ende 70, somit wäre sie heute über 100, wahrscheinlich ohne Locken. Und die Begonien trocken. Das jetzt nur noch wegen des reinen Reimes.
So, das war wieder einmal ein Ausflug in meine Gehirnwindungen. Würde mich freuen, wenn ihr mir folgen würdet…(schlechtes Deutsch, ich weiß).
© 2021-04-07