Erste und letzte Nachricht

Ahmad Alshrihi

von Ahmad Alshrihi

Story

Lieber Vater,

Grüße an dich und meine Mutter und den Staub auf dem Grab meines Bruders. An den Jasminbaum vor unserem Haus. Und unsere Träume. An unser Damaskus.

Papa, hier ist alles anders. In diesem Land, das so viele Kilometer von meiner Heimatstadt entfernt ist, ist der Winter sehr kalt. Der Sommer ist voller Regen. Die Berge sind grün und fröhlich.

Auf der Straße begegnet man oft einem Blinden, der sicher vorangeht, ohne Verhinderung, denn es gibt kein Schrott oder Müll an den Seiten der Straße. An der roten Ampel bleibt er stehen wie die Anderen. An der Bushaltestelle ist es normal, jemanden in seinem Rollstuhl zu sehen, der auf den Bus wartet, und vielleicht zur Arbeit fährt. Der Bus kommt pünktlich. Ganz einfach steigt der Fahrer aus, um den Mann zu helfen und öffnet die Tür für ihn. Ohne Streit steigen die Passagiere aus. Und ohne die Anderen zu stoßen steigen sie ein.

Die Menschen grüßen auf der Straße nicht. Vielleicht wenn ich sie grüßen würde, würde ich sie erschrecken–oder wenigstens überraschen. Auf diesen Straßen sieht man einen Siebzigjährigen, der sein Fahrrad fährt. Hinter ihm steht ein zwanzigjähriges Mädchen und putzt den Kot ihres Hundes vom Gehsteig weglassen. Meine Freunde fieseln davor und finden es komisch, und dabei schauen sie nicht auf die Sauberkeit der Straße.

Hier an diesem Ort hat man keine Angst vor der Polizei. Würdest du glauben, dass sie vor den Zebrastreifen anhalten, wenn jemand die Straße überqueren will? Das erste Mal als ich das erlebt habe, ich ging drei Meter zurück, damit sie ja wissen, sie haben den Vorrang, aber sie hielten, und einer zeigte mit seiner Hand aus dem Fenster, dass ich die Straße überqueren kann. Hat er vielleicht von meinem Rucksack, der voller Bücher war, gewusst, dass ich nicht deutsch sprechen kann? Jedenfalls überquerte ich die Straße wie im Traum. Am nächsten Tag bat ich sogar die Lehrerin, das Wort „Polizei“ an die Tafel zu schreiben, um sicherzusein, dass ich ein Polizeiauto gesehen habe.

Ich komme müde von den vielen neuen Wörtern in meinem Kopf. Papa, diese Sprache ist schön, aber auch schwierig. Kannst du Fünfhundertfünfundfünfzig schnell sagen? Kannst du raten was es bedeutet? Vielleicht denkst du, dass das ein nützlicher Satz ist. Aber nein, das ist nur die Nummer 555. Jetzt habe ich dieses Problem überwunden und angefangen, in dieser Sprache zu schreiben. Die Lehrerin im Sprachkurs hat mir gesagt, dass mein Schreiben langweilig und kompliziert ist. Meine Schrift ist immer noch Katastrophe.

Hab keine Angst, Papa! Es ist wirklich ein Land mit einer seltsamen Tradition und Sprache. Aber sie sind keine Monster, sondern im Gegenteil: Menschen, wie alle anderen. Sie sind glücklich und lächeln uns immer an.

Es tut mir leid zu sagen, dass ich hier ein Zuhause gefunden habe. Zwischen diesen Gesichtern habe ich Hoffnung gefunden. Ich werde nicht zurückkehren, aber ich verspreche, dir immer zu schreiben und dir alles Schöne zu erzählen.

© Ahmad Alshrihi 2021-05-21