Erster Weltkrieg

Senta Kral

von Senta Kral

Story
Wien und Aschau bei Ried im Innkreis 1918 – 1924

Wieder einmal hatte mich meine Mutter nicht erkannt und für ihre Mutter gehalten. Kurzerhand holte ich eines der Fotoalben, in dem sie mit mir und den Enkelkindern auf einem Bauernhof zu sehen war, auf dem wir mehrere Sommer gemeinsam verbracht hatten. Ich hoffte, sie würde mich auf den Bildern als ihre Tochter erkennen. Ihr Kommentar war nur: „Schön war`s damals in Edlitz!“, und bevor ich noch Fragen zu den Personen stellen konnte, kam dieses sanfte, nach innen gewandte Lächeln und sie begann zu erzählen:

„Wir hatten auch einmal einen Bauernhof. 1918 zu Kriegsende. Wir waren trotz Tauschgeschäften mit den Bauern, trotz Nähen für Lebensmittel und unermüdlichem Nachklauben auf den abgeernteten Feldern rund um Mährisch Neustadt völlig abgemagert. Durch das viele Barfußgehen – Schuhe gab es nur für die Schule – war ich auch ständig verkühlt und wäre mit 10 Jahren fast an Unterernährung gestorben. Nur der Lebertran, den du irgendwo gegen eines deiner goldenen Schmuckstücke eingetauscht hast, hat mir das Leben gerettet. Durch Vermittlung eures ältesten Bruders, der in Salzburg als Richter arbeitete, ergab sich die Möglichkeit, eine kleine Landwirtschaft im Innviertel zu pachten. Die Wohnung in Mährisch Neustadt wurde bis auf ein Kabinett aufgelöst und das bisschen Hab und Gut mit der Bahn verschickt. Großmutter, Tante Betti, die bis zu Kriegsbeginn als Köchin gearbeitet hatte, und du machten sich daran, den kleinen Bauernhof zu bewirtschaften. Eine Kuh, ein Schwein und ein paar Hühner, ein Gemüsegarten und gerade so viel Land, dass es für Mensch und Tier reichte. Damals lernte ich dich von einer neuen Seite kennen: aus der hübschen jungen Frau, die lange Zeit in Frankreich gelebt hatte, wurde über Nacht eine Kleinbäuerin, die bis zum Umfallen schuftete. Zuerst wurde die „Weiberwirtschaft“ von den Nachbarn sehr argwöhnisch betrachtet. Bald aber wich das Misstrauen gegen die „Weiber“, weil sich beim Tratsch nach der Sonntagsmesse herumsprach, dass die ältere der beiden Schwestern als ehemalige Köchin auch aus „Nix“ noch etwas Brauchbares zauberte.“

Für ein paar Sekunden blickte sie mich an und fuhr unbeirrt fort: „Auch für mich begann damals eine sehr ernste Zeit: Onkel organisierte für mich einen Schulplatz im Internat in Neuhaus am Inn. Die Erziehung erfolgte dort nach den alten strengen Regeln der geistlichen Internate. Auch unter den Zöglingen herrschte eine streng hierarchische Ordnung. Traf man ein adeliges Fräulein mit privater Gouvernante auf dem Gang, musste mit einem Knicks Platz gemacht werden. Hatte ich einmal etwas vergessen, bekam ich sofort eine Rüge mit dem Hinweis: „Das kannst DU dir nicht leisten, du bist aus armem Hause, dein Onkel zahlt das Schulgeld.“ Du kannst dir vorstellen, wie sehr ich mich auf die Ferien freute, und mit welcher Begeisterung ich euch in der Landwirtschaft mithalf. Diese Monate waren für mich trotz der kargen Zeit nach dem Krieg die schönsten in meiner Kindheit. Ich verstand mich auch mit den Kindern der Nachbarbauern recht gut und kehrte nur ungern im September ins Internat zurück.Aber wieso erzähl ich dir das alles? Du hast das ja selbst miterlebt! …Warum sagst du, du warst nicht dabei? …Wie kannst du behaupten, du bist nicht meine Mutter, sondern meine Tochter? So ein Unsinn!

© Senta Kral 2024-07-22

Genres
Romane & Erzählungen
Stimmung
Dunkel, Emotional, Reflective