Es gab noch einen Opa

Brigitte Böck

von Brigitte Böck

Story

Meinen Opa väterlichseits lernte ich erst mit 4 Jahren kennen und das auch nur für einen einzigen Abend. Ich werde ihn nie vergessen. Wir wohnten bei meiner Oma, die selbst 2 Kinder hatte und meine Eltern mit 4 Kindern, alle zwischen 12 und 1 Jahr. Wir lagen schon in den Betten, immer zwei in einem, mehr Platz war nicht. Da kam Besuch. Nach einiger Zeit kam ein alter Mann ins Zimmer, knochendürr, weiße Haare und sein Lächeln sehe ich noch immer vor mir.

Er ging von einem Kind zum Anderen, schaute jedem ins Gesicht, setzte sich auf den Bettrand und sagte, er sei unser Opa und er freut sich so, dass er uns nun kennenlernt. Dann erzählte er uns ein Märchen, das erste Mal, dass jemand für uns so etwas tat. Ich erinnere mich kein bisschen an den Inhalt, aber seine strahlenden Augen und seine Stimme werde ich nie vergessen. Ich schmolz fast dahin und fragte ganz schüchtern, ob ich ihn mal anfassen darf. Es war ein ganz tiefes Gefühl von Liebe, obwohl ich ihn nicht kannte. Er nahm mich auf den Schoß und flüsterte mir leise ins Ohr: „Du bist ein starkes Mädchen!“ Oft, wenn es mir schlecht ging, erinnerte ich mich an diesen geflüsterten Satz, er war tief in meine Kinderseele gefallen.

Dann sagte er jedem gute Nacht, strich uns über die Haare und sprach jedes Kind mit seinem Vornamen an. Über den Betten war eine Lampe, gelb, gewölbt und nach oben offen. Er stieg auf einen Stuhl und legte in die Lampenschale ein Geldstück mit den Worten: „Wer zuerst einschläft darf sich das Geld rausnehmen.“ Dann ging er in die Küche.

Wir waren so aufgeregt, wollten ganz schnell einschlafen, um das Geldstück zu holen, aber es ging nicht. Wir hörten aus der Küche einen furchtbar lauten Streit und irgendwann knallte eine Tür.

Am nächsten Morgen war das Geld aus der Lampe weg und der Opa und die Oma auch. Die Oma hatten wir nicht gesehen. Jeder hat jeden verdächtigt, als Erster eingeschlafen zu sein, das hat uns tagelang beschäftigt und es gab nie eine Lösung.

Der Opa und auch die Oma waren weg, wir wussten nicht warum und wohin. Ich bekam von niemandem eine Antwort und war sehr traurig. Man sagte, sie sind in eine andere Stadt gezogen, mehr sagte man uns nicht. 4 Jahre später fuhren wir mit einem gemieteten Auto zu einer Beerdigung nach Stuttgart. Dieser Opa war gestorben und in der Kapelle aufgebahrt. Ich wurde an den offenen Sarg geführt und weinte ganz verzweifelt, weil ich ihn kaum kannte, ihn liebte und nun für immer verloren hatte. Es waren viele Menschen da, er wohnte mit seiner Frau in einem christlichen Altersheim und war dort als Organist tätig.

Viel später, ich war schon erwachsen, erfuhr ich von meiner Mutter, das meine Großeltern unter Hitler in der bekennenden Kirche waren und Juden versteckt haben. Mein Vater hat sie an die Gestapo verraten und sie kamen bis zum Kriegsende ins KZ. Meine Oma ist dort durch Medikamentenversuche erblindet. Darum damals der laute Streit, das Knallen der Tür und es gab zum Opa nie mehr einen Kontakt.

Diese Information hat mich zutiefst erschüttert…..

© Brigitte Böck 2020-08-19