Da ich schon ziemlich alt bin, liegt der letzte Tag ja nicht allzu ferne und so habe ich manchmal Vorstellungen, wie er aussehen könnte. Das hängt natürlich von meinen Lebensumständen ab – wo ich mich an meinem letzten Tag befinde.
Ich will ein paar Möglichkeiten andenken. Und wie so oft, bin ich allein unterwegs, denn das ist meine Art des Reisens – so gern ich sonst meine Liebsten und andere Menschen um mich weiß. Ich habe ja schon über meine allerletzte Reise geschrieben. Aber das ist eine andere Geschichte.
Mein letzter Tag könnte in den Wolken, über den Wolken, stattfinden, dann wäre die Entflechtung von Leib und Seele nicht so schwer. Ich könnte meine geliebte Welt noch einmal von oben betrachten. Der Leib könnte mithilfe der Anziehungskraft in die Erde oder das Wasser fallen und verschwinden. Die Seele aber mithilfe der Fliehkraft in den Himmel entschweben.
Eine andere Möglichkeit wäre eine Wüstenwanderung – einfach gehen, gehen, endlos gehen bis ich erschöpft zu Boden falle und der warme Sand mich zuweht. In einer Dokumentation habe ich eine alte Löwin gesehen, die, als sie ihr Ende nahen fühlte, auf diese Weise ihr Leben beendete, nachdem sie ihrem letzten Wurf das Jagen beigebracht hatte. – Würdevoll und bewegend.
Am Meer möchte ich sein und wie ein Delfin – leicht und sanft durchs Wasser gleiten bis mich die unendlichen Tiefen verschlingen. Auch das habe ich erlebt an der Südküste Italiens. Verwundet zog ein Tümmler seine Kreise in unendlicher Gelassenheit bis er versank.
Solch wunderbare Szenarien könnte ich noch einige heraufbeschwören. Zum Beispiel fällt mir ein, wie die sterbende Prostituierte im gleichnamigen Film Alexis Sorbas bittet, ihre Brust zu halten. Sie will noch einmal Männerhände auf ihren Brüsten spüren.
Ja, das könnte schön sein. Noch schöner wäre mit Alexis Sorbas tanzen bis zum Umfallen – beim Sonnenuntergang in Griechenland.
Da ich so vieles schon erleben durfte und mein Leben in Frieden ist, bleiben nicht viele Wünsche offen. Ein Bild meines letzten Tages erscheint mit einer Prise makabren Humors auf dem Balkon in einer eiskalten Winternacht. Ich setze mich mit einer Flasche Whiskey ins Freie und sehe dem Glitzern der Sterne und Schneekristalle zu, bis meine Augen erstarren und mein Körper klirrendes Eis wird, das zerspringt. Ich bin ja im kältesten Winter des letzten Jahrhunderts geboren und fast erfroren. Und das ist eine sehr angenehme unterbewusste Erinnerung.
Sollte es aber ein warmes Bett sein – gut behütet und betreut, könnte ferne Musik erklingen, die mich anzieht oder laute, die mich entfliehen lässt, und meine Augen würde ich schließen zu dem wunderbaren Lied von Reinhard Mey “Lass nun ruhig los das Ruder, Dein Schiff kennt den Kurs allein. Du bist sicher, Schlafes Bruder wird ein guter Lotse sein.”
Geschrieben für das Thema „Der erste letzte Tag” angeregt von Sebastian Fitzek’s Buch.
© Christine Sollerer-Schnaiter 2021-07-05