Es pressiert

Lotte Maria Kaml

von Lotte Maria Kaml

Story

Endlich Frühling, endlich Urlaub! Der günstige Flug nach Tunesien war gebucht. Diese Höhlenwohnungen in Matmata musste ich unbedingt sehen. Auf nach Hammamet! Da tauchte ein kleines Problem auf: Meine Freundin passte nicht mehr in ihren Bikini. Einen neuen zu kaufen kam für sie gar nicht infrage. „Das bisschen Winterspeck kriege ich schon weg!“ Eine Woche hatte sie Zeit bis zum Abflug.

Kritisch sah sie mich an. „Du könntest auch was tun für deine Figur!“ Na gut, zwei Kilo hatte ich zugenommen. Aber deswegen gleich hungern? Sieglinde hatte schon die Lösung parat: Shakes, voller Vitamine, Essen überflüssig. „Wenn’s pressiert, perfekt!“

Am ersten Tag ging es. Als mir dann aber das künstliche Erdbeer-Aroma in die Nase stieg, streikte ich. Sieglinde gab nicht auf. „Dann zieh ich das allein durch!“ Am dritten Tag war sie auffallend blass. Ich hüpfte gerade aus der Dusche, als sie klopfte. „Entschuldige!“, wimmerte sie und hielt sich ihr Bäuchlein, „mir pressiert’s!“ Der gesunde Shake hatte eine kleine Nebenwirkung. Die nächsten Tage beschränkte sie sich auf Zwieback und Pfefferminztee. Beim Kofferpacken strahlte sie: „Was hab´ ich gesagt? Mein Bikini passt wieder!“

Tunesien war interessant. Die Sehenswürdigkeiten, das aus dem Zimmer-Safe verschwundene Geld, die Strandverkäufer, welche uns ständig belästigten. Das Essen? Die Diät hätte Sieglinde sich sparen können. Nach dem vierten Tag konnte sie das Zimmer nicht mehr verlassen. Es pressierte wieder einmal. So rasant, dass ich sofort Aktiv-Kohle besorgte. Ich ernährte mich hauptsächlich von Weißbrot und Melonen. Das war ungefährlich.

Drei Tage vor unserem Heimflug bekamen wir einen Anruf. Die Rezeptionistin. Ein Zimmer war irrtümlich überbucht, unseres. Sie bot uns an, den Rest des Urlaubes auf der Insel Djerba zu verbringen, im 4. Sterne-Hotel. Ja oder nein? Und dann pressierte es wirklich. Nach der halsbrecherischen Fahrt mit dem klapprigen Hoteltaxi standen wir am Inlands-Flughafen. Die Szenerie war pittoresk: Männergruppen, Frauen mit verhüllten Gesichtern, ein Ziegenbock, der sich wohl verlaufen hatte, Dreck, Gestank. Endlich an Bord setzte sich ein Mann neben mich. Er trug eine Djellaba und roch nach Rasierwasser.

Schon kurz nach dem Start wurde es turbulent. Wir gerieten in eine Gewitterfront. Ängstlich sahen wir aus dem Fenster. Mein Nachbar stupste mich an. „Eat!“, sagte er und hielt mir eine Papiertüte mit Weintrauben hin. „You must eat!“ Sieglinde war wieder einmal leichenblass. Plötzlich war mir alles egal.

Ich futterte die gesamte Tüte mit den zuckersüßen Weintrauben, die sicher noch keinen Wasserhahn gesehen hatten, leer, ignorierte das Auf und Ab des Flugzeugs, die überlaute arabische Musik an Bord und dachte: „Pfeif drauf! Das Leben ist bunt!“ Die Angst war weg. Djerba war schön. Die Menschen freundlich, das Essen im Hotel topp, niemand hat uns belästigt. Ich wäre gern noch geblieben. Aber es pressierte schon wieder. Die Arbeit rief.

© Lotte Maria Kaml 2020-11-16