ES TUT MIR LEID (unter Straßenlaternen)

Linda Neumann

von Linda Neumann

Story

Are you okay? Du verstehst mich nicht. Ich lehne mich weiter über den Tisch und frage erneut, etwas lauter, etwas unsicherer. Du nickst und wunderst dich über die Frage. Ein Stimmengewirr liegt in der Luft, wir verfangen uns darin. Ich schaue zum Nachbartisch – die Stimmung ist gut, die Augenringe dunkel. Du hast dich zu uns gesetzt, ein Gespräch angefangen und deine Finger trommeln hektisch auf der Tischkante. Eine Zigarette nach der anderen liegt auf deinen Lippen, doch da rauschen noch andere Gifte durch dein Blut. Die Nacht ist jung und wir sind es auch. Bist kaum älter als ich, doch dein Gesicht – so gezeichnet von Künstlern, vom Leben. Bist ein Künstler, doch auch am Leben?

Du zückst ein Notizbuch und in hastigen Strichen bringst du unsere Silhouetten zu Papier. Abstrakt. Flüchtig und irgendwie schön. Flüchtig beschreibt auch dich ziemlich gut. Deine Augen schwirren durch den Raum, suchen nach Halt, nach Erwiderung, nach etwas. Ich frage mich, was du verloren hast. Oder ob man auch ohne Verlust auf einer ständigen Suche sein kann. Ich kann dich verstehen. Sehnst dich nach etwas, was diese Welt dir nicht bieten kann. Mit der Hand auf dem Herzen pendelst du zwischen Verzweiflung und zweiten Chancen. Bist nie still, nie am richtigen Ort, immer auf dem Sprung. Du springst vom Stuhl auf und deine Knie zittern. Mit einem breiten Lächeln läufst du davon. Voller Sorge schaue ich dir nach, bis du tanzend in der Menge verschwindest.

Die fertige Zeichnung habe ich nie gesehen. Vielleicht hast du sie nie beendet.

Ein Freund dreht sich zu mir – manche Menschen wollen nicht gerettet werden. Ich schaue ihn in Gedanken versunken an. Dann gehe ich, vorbei an klebrigen Bartheken und gekrümmten Rücken, zur Tür hinaus. Du stehst im Schein von Straßenlaternen bei Menschen, die nach guten Freunden aussehen. Ich bereue, was ich gefragt habe. Bereue, dass ich an Menschen immer die gebrochenen Seiten suche, dass ich immer versuche zu bandagieren, was vielleicht nie eine Wunde war. Es ist selbstsüchtig, weil es mir ein gutes Gefühl gibt. Will endlich aufhören, selbstsüchtig zu sein. Will im tanzenden Fremden einen Menschen und eine Geschichte, keine Mission sehen.

Vielleicht willst du nicht gerettet werden. Vielleicht bist du nie in Gefahr gewesen. Vielleicht ist eine flüchtige Barbekanntschaft nicht der richtige Anlaufpunkt, um darüber zu reden. Ich will sagen, dass es mir leidtut. Doch du bist schon weg. Flüchtig. Im Dunkeln davon geflogen. Hoffentlich in offene Arme. Hoffentlich heimwärts.

© Linda Neumann 2022-08-31

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