Es war einmal

Anatolie

von Anatolie

Story

Wenn ich heute aus dem Wohnzimmerfenster meines Elternhauses blicke, sehe ich eine schon in die Jahre gekommene Holzhaussiedlung. Ich erinnere mich an eine Zeit, da gab es hier noch landwirtschaftlich genutzte FlĂ€chen. Ein paarmal im Jahr kam der Bauer, um Felder und Wiesen zu bestellen, doch irgendwann hat er alles verkauft. Es muss einmal im Herbst gewesen sein, die Tage wurden schon trĂŒb und ich war, glaube ich, elf oder zwölf Jahre alt, da fuhren die Bagger vor, sie hoben tiefe GrĂ€ben aus und die wundervolle Wiese vor unserem Haus verwandelte sich im Nu in eine Erd- und BetonwĂŒste. Wie oft bin ich einst durch das hohe Gras gestapft und habe fĂŒr unseren Mittagstisch zu Hause wilde Blumen gepflĂŒckt. Ich sehe noch die bunten StrĂ€uße vor mir: Da gab es Margeriten, Kuckuckslichtnelken, goldgelben Bocksbart und die violette Acker-Witwenblume, Wicken und auch jede Menge Hahnenfuß, mein absoluter Liebling war die Wiesenglockenblume. Im FrĂŒhjahr, wenn alles zu wachsen begann, war die ganze FlĂ€che vor unserem Haus ein LöwenzahnblĂŒtenmeer. Ich weiß auch noch, wie ich einmal fĂŒr zwei Ă€ltere Damen, die zufĂ€llig neben unserem Gartenzaun vorbeispaziert waren, einen großen Strauß Blumen pflĂŒckte. Ich musste schon ganz dringend aufs Klo, aber das eine oder andere GrĂ€s-chen holte ich noch. Gerade als die zwei Damen – nachdem sie sich auch artig bei mir bedankt hatten – ihres Weges gegangen waren, hielt meine Blase dem Druck nicht mehr stand. Ich nĂ€sste mich dort mitten auf der Straße komplett ein und meine Mutter schalt mich, die FĂŒnfjĂ€hrige, ein kleines Baby. Es gab auch eine Tante Anni und einen Onkel Willi. Sie waren mit meinen Eltern befreundet und haben uns oft besucht. Dann sind wir alle zum Heuschrecken fangen in die Wiese ausgerĂŒckt. Onkel Willi brauchte die Insekten als Köder, wenn er zum Fluss hinunter Angeln ging.

Hinter den ReihenhĂ€usern, die jetzt anstelle dieser Wiesen stehen, war einmal ein sehr belebter Kinderspielplatz. Es kamen auch die Kinder der nahen Maschinenfabriksiedlung hierher. Gleich daneben erstreckte sich ein Ödland, eine Art Wildnis mit wucherndem GestrĂŒpp. Ich bin sehr gern durch diese GstĂ€tten gestreift und habe dabei immer interessante Dinge gefunden. Die Leute haben damals ihren ganzen SperrmĂŒll in die Natur entsorgt. Das war zwar eine riesige UmweltsĂŒnde, aber fĂŒr uns Kinder damals ein spannendes Feld. Einmal haben wir alte Dosen, die wir im GebĂŒsch fanden, an eine Schnur geknĂŒpft und diese an die AnhĂ€ngerkupplung des Autos vom Nachbarn gebunden. Wir wollten diesen Spaß, wenn es beim Wegfahren ordentlich schepperte, live miterleben. Leider hat er uns wĂ€hrend unserer Arbeit beobachtet und so hatten wir am Ende nichts davon. Auch verwilderte Streuobstwiesen gab es noch in nĂ€chster Umgebung. Ich liebte diese kleinen Zufluchtsorte. Da versteckte ich mich, hier trödelte ich rum, es gab wilde Erdbeeren, dicke Hummeln und efeuumrankte, knorrige alte BĂ€ume.

Nach und nach verschwanden auch diese letzten wild-idyllischen Inseln, der SpeckgĂŒrtel rund um die Stadt wuchs immer weiter zu und schon bald standen im ganzen Umkreis nur noch HĂ€user mit gepflegten GĂ€rten. Ich habe keine Fotos, die zeigen, wie es frĂŒher einmal war. Aber einiges davon lebt in meinem Herzen weiter.

© Anatolie 2025-04-09

Genres
Romane & ErzÀhlungen
Stimmung
Emotional, Komisch, Reflektierend, Traurig
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