Eulenrufe

walter reichel

von walter reichel

Story

Ich erwache noch vor Tagesanbruch durch den beharrlichen Ruf einer Eule. Etwas Fremdes fĂŒhle ich, etwas gefĂ€hrlich Lauerndes. Dann fĂ€llt mir ein, dass ich nicht zu Hause bin. Gestern bin ich hier spĂ€t nachts in dieser entlegenen Herberge abgestiegen. Und wie mĂŒhsam war es, sie zu finden, nach langer Wanderung durch dieses zerklĂŒftete Gebirge und durch nahezu undurchdringliche WĂ€lder!

AllmĂ€hlich dĂ€mmert das fahle Morgenlicht und behaucht die unteren WolkenrĂ€nder mit blassem Rosa. Die Eulenrufe werden seltener und leiser, schließlich verstummen sie.

Rasch erhebe ich mich von meinem Lager, kleide mich an und steige die schmale Holztreppe nach unten in die Stube. Der Wirt hat im offenen Kamin ein Feuer entfacht, und das flackernde Licht zeichnet tiefe Furchen und Schatten in sein Gesicht, das durch diese Beleuchtung einen so grÀsslichen Ausdruck annimmt, wie ein holzgeschnitzter Teufel im Puppenspiel.

“Ich will keine Arbeit mit Ihnen haben”, faucht er mich an. “Geben Sie Acht, die Wege sind sicher, aber in den WĂ€ldern sind Minen vergraben. Bleiben Sie immer auf den Wegen.”

Ich glaube nicht recht gehört zu haben. “MINEN?” frage ich.

“Ja, vom Krieg. Der ist lang vorbei, aber niemand hat sich die MĂŒhe gemacht, all diese Sprengladungen zu entfernen. Immer wieder werden SpaziergĂ€nger zerrissen, die vom Weg abweichen. Ich bin hier nicht nur Wirt, mĂŒssen Sie wissen, sondern auch TotengrĂ€ber. Die Erde ist furchtbar hart: ein Konglomerat von Feldspat, Quarz, Glimmer und kupferhaltigen Silikaten. Und ich muss nicht nur jene eingraben, die von den Minen getötet werden, sondern auch jene, die Minen gelegt haben und alle anderen, die weder Minen vergraben haben noch durch sie getötet werden, sondern auf irgendeine andere Weise sterben. Das ist sehr mĂŒhsam. Ein einziges Grab kostet mich Tage unsĂ€glich harter Schufterei. Der Körper freilich, wenn er endlich vergraben ist, verwest in diesem Boden nicht, sondern versteinert. Die Seele aber – ” und nun nĂ€hert er sich, als hĂ€tte er vor, mich mit seiner gewaltigen Nase aufzuschnupfen wie eine Prise Tabak und in seinen Pupillen flackert Bengalisches Feuer – “die Seele aber, wer weiß, an welchem Nichtort sie ihr gallerthaftes Dasein unentwegt verlĂ€ngert! Morgen fĂŒr Morgen weinen die Seelen der Toten um den Verlust ihres Körpers und wir hören ihre endlose Trauer im Ruf der Eulen.”

“Gibt es denn nur unglĂŒckliche Seelen?”, frage ich. “Es gibt auch schweigende Seelen, die bei Windstille schwĂ€rmen, in regloser Luft. Und ja, vereinzelt gibt es auch glĂŒckliche, die ihre Bleibe im GedĂ€chtnis jener finden, die sie lieben.”

© walter reichel 2021-08-09

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