Eure rekonstruierte Romantik

Liebe Kati, lieber Emil. Ihr wisst es nicht, aber ich weiß von euch.

Ich weiß nicht, wer ihr seid oder wie ihr ausseht. Ich weiß nur, dass deine Haare, Kati, lang und dunkelbraun sind und dein Rucksack cremeweiß mit schwarzen Riemen. Ich weiß auch, dass du, Emil, Katis Rucksack fotografiert hast. Katis Haare fallen darüber auf ihre Schultern.

Ich weiß das, weil ich das Foto gefunden habe.

Mitten auf einem Wiener Gehsteig hat das Foto um Aufmerksamkeit gebuhlt. Die meisten Leute sind vorbeigegangen, ich nicht.

Du, Kati, hast mit blauem Kuli eine Nachricht an den Emil auf dieses Foto geschrieben. „Kati“ unterschreibst du so, „KATi“, mit Großbuchstaben, aber einem i-Punkt. Kati, ich glaube, dass du in den Emil verliebt bist.

Jetzt nicht wegen des i-Punktes, der ist nicht mehr als das Tüpfelchen auf dem i das er ist; nicht einmal ein diakritisches Zeichen, einfach ein i-Pünktchen auf einem eigentlich vielleicht großgeschrieben gehörenden I, würden das K, das A und das T erwarten lassen. Ich wollte das Pünktchen nur erwähnt haben, weil es so herzig aussieht und ich mir denken könnte, dass du es extra gesetzt hast, weil der Emil das irgendwie süß finden wird. Wolltest du ursprünglich vielleicht gar ein Herzerl über das i setzen? Wer weiß.

Ich weiß halt nicht, ob du, Emil, auch in die Kati verliebt bist. Aha, zum Essen hast du sie einmal eingeladen, schreibt sie. „Danke fürs Essen!“, steht da, mit einem riesigen Ausrufezeichen. Also Emil, ich muss schon sagen, du hast der Kati imponiert mit dem Essen! Die Kati will dich wiedersehen, wenn du wieder in Wien bist, schreibt sie!

Wo lebst du denn eigentlich, Emil, wenn die Kati verrät, du bist nicht in Wien? Wusstest du, dass dein Name von dem lateinischen Nomen gentile “Aemilius” kommt? Du, ich weiß es auch nur wegen Wikipedia. Du könntest, laut Variantenverteilung, in Bulgarien, Deutschland, Finnland, Österreich, Russland, Serbien, der Schweiz oder der Ukraine wohnen. In Norwegen ist dein Vorname auch sehr beliebt. Ich sag jetzt mal du wohnst in Norwegen, das ist so cool weit weg.

Also, Emil, du hängst in meiner Vorstellung an einem Fjord rum und denkst dir, was die Kati aus Wien so macht. Dich, Kati, stelle ich mir im Cottage Viertel in Wien-Währing vor, einfach wegen dieses durchschnittseleganten cremeweißen Rucksacks mit den schwarzen Riemen, irgendwie hat der so eine mittel-oben-bürgerliche Aura.

So, was machen wir jetzt? Da hast du, Kati, für den Emil ein super romantisches Artefakt gebastelt und dann ist es einfach auf den Straßen Wiens entlaufen und ich habe es gefunden.

Liebe Kati, lieber Emil, ihr wisst es nicht, aber ich weiß von euch. Also ich rekonstruiere, was ich weiß, erstens: Ich weiß, dass du, Kati, den Emil magst. Und zweitens: Du, Emil, hast entweder Ahnung von alledem oder keine Ahnung von irgendwas – weil dieses Foto ein romantisches Artefakt werden sollte, aber das habe jetzt ich und nicht du.