Evi, die Gänseliesl

Eva Filice

von Eva Filice

Story
Kittsee 1958 – 1962

Hunde statt Gänse. Das charakterisiert den Wandel der Zeit. Wo sich jetzt ein eingezäuntes Areal für Hunde und ein Wäldchen mit Pappeln befindet, konnten in den 50-er und 60-er Jahren Gänse auf einer grünen Wiese weiden. Hunde gab es zur Zeit meiner Kindheit nur in den Bauernhäusern als Wachhunde. Der Teich inmitten der Wiese, von dem in den Sommerabenden das Quaken der Frösche bis zu unserem Haus drangen, ist fast ausgetrocknet.

An Sommertagen bestand nach dem Mittagessen meine Aufgabe unsere Gänse auf der nahen Wiese zu hüten. Der Weg von meinem Elternhaus bis zur Wiese war nicht weit. Ich musste mit den Gänsen die Hauptstraße überqueren, im Nu war ich schon auf der Wiese. Der Autoverkehr war damals sehr gering, die wenigen Traktoren befanden sich bei der Arbeit auf den Feldern. Die meisten Bauern hatten Pferdefuhrwerke so wie mein Vater auch. Der kurze Weg mit den Gänsen war gefahrlos zu bewältigen. Die Gänse kannten den Weg und watschelten in Erwartung des guten Futters schnatternd voraus.

In der rechten Hand trug ich einen Stock, den ich allerdings nie verwendete. Unter der Achsel verbarg ich in eine Decke gehüllt ein Buch. Manchmal kam auch eine Freundin aus der Nachbarschaft mit ihren Gänsen auf die Wiese. Sie achtete mit Argusaugen darauf, dass die Gänse beisammen blieben und sich nicht weit von ihr entfernten. Ich breitete die Decke aus und begann sofort zu lesen. Das Buch „Fünf Mädel erobern die Welt“ von Trude Payer faszinierte mich. Während ich auf einer Wiese eines Ortes nahe dem „Eisernen Vorhang“ saß, begleitet ich in Gedanken die 5 Mädel als blinde Passagierin. Grenzenlos und ohne Pass, den ich damals gar nicht besaß, nahm ich an den Abenteuern des reiselustigen Quintetts teil. Ich malte mir die Landschaft aus. Ich besuchte mit den Mädchen, die in einem Auto die Welt eroberten, Städte, deren Namen ich nicht kannte. Auf dem Cover des Buches fuhren die unternehmungslustigen Teenagerinnen mit einem offenen roten Auto. Mit Sonnenbrillen und Seidentüchern, die im Fahrtwind flatterten, wurde die Mode der damaligen Zeit zum Ausdruck gebracht. Dieses Bild weckte die Sehnsucht nach der Ferne in mir.

Meine „Reisen“ außerhalb meines Ortes führten mich zu Verwandten nach Wien. Manchmal durfte ich meine Großmütter zu Wallfahrten begleiten. Das gefiel mir, denn die hohen Berge übten eine Faszination auf mich aus. Später stellte ich fest, dass die Berge gar nicht so hoch waren. Aber ein Kind der pannonischen Tiefebene betrachtete die Erhebungen in Wohnnähe schon als einen Berg. Diese „Berge“, die eine Verbindung zu den Kleinen Karpaten herstellen, täuschten aufgrund der Bezeichnung „Berg“ eine Höhe vor: der Hundsheimer Berg mit seinen 480 m oder der 346 m hohe Braunsberg bei Hainburg sowie die Königswarte mit 344 m, von uns Berger Berg genannt. Mit derartigen sehnsuchtsvollen Gedanken verbrachte ich die Nachmittage auf der Wiese. Die Gänse brachte ich jedes Mal gut nach Hause. Ihr Schnattern vor unserem Haus war unüberhörbar. Unser Hund meldete mein Kommen und Papa stand bereits vor dem Haus und lobte mich für die Hilfe. Meine Reiselust kann ich seit Jahrzehnten genießen. Ob Reisen durch mein Sternzeichen vorbestimmt ist?

© Eva Filice 2025-05-26

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