von Nicole Richter
Ich knüpfe an die Ausführungen von Xavier an, über das Glück im Leben zu finden, versuche hervorzuheben, wo ich seiner Meinung bin, und dann breche ich die Gemeinsamkeit mit: „Und dennoch glaube ich, dass Leid ein Teil des Lebens ist. Tatsächlich bin ich davon überzeugt, dass Leiden uns menschlich macht, andere Emotionen emporhebt und dadurch Erstrebenswertes schafft.“
Vier Augenpaare sind auf mich gerichtet und ich versuche mich kurzzufassen, rede mich jedoch mit jedem Satz mehr und mehr in eine Art Flowzustand hinein.
Als ich mich am Ende meiner kleinen Rede verbeuge und dann wieder zu den anderen in den Kreis setze, bin ich regelrecht berauscht von dem Gefühl, diesen Teil meiner Wahrheit mit ihnen geteilt zu haben. Und zugegeben, der Applaus, den ich erhalte, gibt dem Ganzen die Kirsche auf dem Sahnehäubchen des elektrisierenden Gefühls, das meinen Körper durchpeitscht.
Es geht reihum weiter. Rick spricht über die Sinnlosigkeit der Sinnsuche. Maxi vertritt die Meinung, dass der Sinn im Leben jener ist, den wir dem Leben geben. Und Dagmar ist davon überzeugt, dass es einen größeren Plan geben muss, warum ausgerechnet wir am Leben sind. Sie kann sich nicht vorstellen, dass Gott uns ohne Grund auf diese Erde geschickt hat.
Rick, der als selbst ernannter Atheist die Themen Gott und Religion nicht unkommentiert lassen kann, fordert Dagmar zu einer Diskussion auf. Ich verfolge das Ganze eine Zeit, bis ich mich hier und da einschalte, wo ich das Gefühl habe, das er unpräzise oder gar persönlich und damit Dagmar gegenüber unfair wird.
Ein Abend vor zehn Jahren schießt mir einen Sekundenbruchteil durch den Kopf. Mein damaliger Freundeskreis. Wir, um die siebzehn Jahre alt, das ein oder andere Bier intus, vielleicht auch schon eins zu viel, über das Leben philosophierend.
Was hatte sich geändert zu den Unterhaltungen, die wir als Teenager führten, unverfroren über Gott und die Welt diskutierten, uns leicht angetrunken besonders weise und erwachsen vorkamen? Die Erinnerung wird farblos, löst sich auf und ich bin wieder ganz im Moment.
Doch nach und nach verschwimmen alle Aussagen des Abends ineinander und was bleibt ist ein Gefühl. Wir sind jung, wir sind jetzt. Und die Endlichkeit klopft an unseren Schild, den wir mit dieser Stimmung errichtet haben, möchte uns erinnern, dass es so nicht immer sein wird. Wir sehen sie, wir nehmen sie wahr und dadurch heißt uns die Unendlichkeit für diesen einen ewigkurzen Moment willkommen.
© Nicole Richter 2022-08-14