von Brigitte Böck
Das Wort “Totensonntag” gab es in meiner Kindheit nicht. Ich bin in einer kleinen lutherischen Gemeinde aufgewachsen, in der wir diesen Tag immer als Ewigkeitssonntag benannten. Und so waren auch die Rituale an diesem Tag in keiner Weise traurig. Wir zogen uns festlich und farbenfroh an, gingen gemeinsam zum Gottesdienst, ich dem viele Loblieder gesungen wurden und die Namen der Verstorbenen aus dem letzten Jahr wurden verlesen. Anschließend gingen wir als Familie zum nahe gelegenen Friedhof. Wir, fünf Kinder, die Eltern und Oma, hatten ein Instrument dabei. Die Stimmung war fröhlich und wir trugen unsere Instrumente, Akkordeon, Gitarre, Flöten, Mundharmonika, Triangel und kleine Trommeln.
Wir besuchten dort unseren Opa, eine Cousine, zwei unserer Klassenkameraden und Kunden aus unserem Tanteemma-Laden, uns Kindern wurde gesagt, sie sind uns vorausgegangen und wir werden sie dereinst wiedersehen. Heute wollen wir ihnen eine Freude machen, an sie denken und einige Lieder für sie singen. Wir begannen mit einer Schweigeminute, stellten uns vor jedem Grab in einen Kreis, dann sprach unser Vater ein paar persönliche Worte für jeden Toten. Nun sangen wir unsere Lieder, Vater meinte, wir sollten laut, aber besonders schön singen, damit unsere Lieben es bis in den Himmel hörten. Wir sangen alte Schlager, Wanderlieder und erst zum Schluss ein christliches Lied. Es war ein schönes Gemeinschaftserlebnis, zumal mein Vater an diesem Tag ausnahmsweise immer in ausgeglichener Stimmung war. Oft gesellten sich andere Friedhofsbesucher zu uns, man kannte uns durch das Geschäft, das meine Eltern in dieser Ecke von Berlin hatten.
Auf dem Heimweg alberten wir, spielten fangen, und freuten uns auf das gemeinsame Essen, das unsere Mutter schon am Abend vorbereitet hatte. Meist kamen noch Verwandte zu Besuch, es gab einen großen Mangel an Platz in unserer 1.5 Zimmerwohnung, sodass wir Kinder auf dem Teppich saßen mit dem Teller auf dem Schoß. Jeder, der wollte, konnte eine Geschichte über einen der Toten erzählen und es wurde viel gelacht. Auch Fotos wurden herumgereicht und viele Bilder entstanden in unseren Köpfen aus den Zeiten, als diese Menschen noch bei uns waren. Allmählich verabschiedeten sich unsere Gäste und es trat langsam Ruhe ein, es war nur noch das Klappern vom Abräumen des Tisches zu hören. Mit einer Abendandacht beendeten unsere Eltern diesen Tag und wir Kinder gingen müde, entspannt und mit vielen Eindrücken ins Bett und fielen schnell in bewegte Träume. Ich erinnere mich gern daran, weil es ein Tag war ohne jegliche Reglementierung durch den strengen Vater.
Dieses Ritual, das sich alljährlich mit kleinen Veränderungen wiederholte, erlebte ich bis ich 13 Jahre alt war. Durch diese Erinnerungen ist der Totensonntag für mich nie ein trauriger Tag gewesen und wir wuchsen mit dem Bewusstsein des Sterbens auf. Das tiefe Wissen um ein Wiedersehen hatte immer etwas Tröstliches und es hat sich in mir bis heute erhalten.
© Brigitte Böck 2022-11-20