Fallende Blätter

Christine Hagelkrüys

von Christine Hagelkrüys

Story
Niederösterrrreich 2023

Mir scheint, dieser Sommer will so gar nicht enden. Der Herbst rüttelt schon ungeduldig an der Tür, doch die Sonne zuckt die Schultern und lässt ihn warten, als wäre er ein lästiger Bittsteller. Sie hat ja recht, ihre Schuld ist es nicht, dass die Erde sich erwärmt und der Sommer mehr Platz beansprucht, als ihm zusteht.

Es ist Anfang November und die Bäume zeigen sich noch großteils im grünen Blätterkleid. Manch goldgelber und roter Tupfer erfreut schon mein Auge, doch auch ich klammere mich noch an der Wärme des Sommers fest, so wie die Blätter am Ast.

Eigentlich mag ich den Herbst, mit seinem bunten Farbenspiel, den modrigen Gerüchen, dem Nebel und dem leisen Abschiedsschmerz der fallenden Blätter. Jede Spezies, jedes einzelne Blatt zelebriert seine ganz persönliche Abschiedsvorstellung. Es gibt Blätter mit Todessehnsucht, die sich einer kräftigen Bö schnell ergeben und ziemlich unspektakulär zu Boden fallen. Die Drama-Queen hingegen trudelt sehr langsam, Pirouetten drehend und beifallheischend, ihrem Ziel entgegen und legt eine perfekte und sanfte Landung hin. Die Coolen warten den perfekten Moment ab und nutzen ideale Windströmungen für einen langen, formvollendeten Gleitflug. Der Klammerer kann nicht loslassen und schafft es oft bis ins Frühjahr am Ast zu haften. Ein schöner Anblick ist das dann freilich keiner mehr, braun und zerknittert harrt er einsam aus und wartet auf die frischen, grünen und zarten Artgenossen. Diese verspotten ihn dann nur, ob seiner hässlichen und runzeligen Gestalt. So hatte er sich das sicher nicht vorgestellt, er hat sich als Held gesehen, der die eisigsten Stürme überdauert hat. Mit einem Seufzer ergibt nun auch er sich seinem Schicksal.

Aber auch das scheinbare Ende der Herbstblätter gestaltet sich sehr divers. Manche schöngefärbten Blätter werden bewundernd von Menschenhänden aufgehoben und mit nach Hause genommen. Sie finden vielleicht sogar einen Platz zwischen zwei Buchseiten, werden gepresst und später zu einer Herbstcollage verarbeitet. Andere zieren eventuell einen Kranz oder ein Gesteck. Der schönste Anblick für mich ist jedoch die Gemeinschaft der bunten und vielgestaltigen Blätterteppiche im Wald und auf den Wiesen. Sie bieten vielen kleinen Krabbeltieren Schutz und Nahrung, gehen Symbiosen mit Pilzen ein und werden schließlich der Humus, aus dem wieder neues Leben entsteht.

Die aufmerksame Betrachtung der Natur ist heilsam für die Seele, herausfordernd für den Geist und erholsam für den Körper. Alle Geheimnisse des Lebens sind in ihr enthalten, sie offenbaren sich denjenigen, die offenen Herzens sind.

Wir müssen unsere Kraft für den Erhalt dieses wunderbaren Planeten einsetzen, mit Geschichten, mit Taten, mit Ressourcenschonung, mit Vorbildwirkung, jeder im Rahmen seiner Möglichkeiten.


© Christine Hagelkrüys 2023-11-05

Genres
Romane & Erzählungen, Lebenshilfe
Stimmung
Emotional, Hoffnungsvoll, Reflektierend