von Aulona Demolli
Wenn ich bedenke, wie viel umständlicher Anfang der 2000er der Austausch von Informationen über weitere Entfernungen im Vergleich zu heute war, ist es rückblickend bemerkenswert, wie meine Eltern sich trotzdem mit den Verwandten im Kosovo auf dem Laufenden hielten, sei es über das Telefon, oder über Briefe. Etwas emotionaler wurde es, wenn sie sich gegenseitig gedruckte Fotos oder Videokassetten mit Familienaufnahmen schickten. „Kommt Kinder, begrüßt eure Großeltern!“, rief unser Vater uns enthusiastisch auf, wenn er seine Kamera auf uns richtete. Die Verwandten im Kosovo sollten zumindest über Videos und Bilder seine kleine Tochter und Söhne sehen können. Meine Brüder und ich drängten uns neugierig zur Kamera vor und winkten lächelnd. „Magst du den Verwandten zeigen, was du in der Schule gelernt hast?“, fragte mich mein Vater. Ich hatte gerade mal angefangen in die erste Klasse zu gehen und trug die ersten deutschen Lieder oder kurze Gedichte, die ich in der Schule gelernt hatte vor, obwohl mich niemand im Kosovo verstehen würde. Auch wir erhielten Videokassetten, aus Pristina, die wir immer sofort vor dem Fernseher versammelt voller Neugier aufmerksam anschauten. Ich fand es als Kind interessant, wie die Menschen in den Videos, die ich nie persönlich gesehen hatte, mich und meine Brüder erwähnten und uns sogar nachträglich zum Geburtstag gratulierten. „Wir hoffen euch so bald wie möglich zu sehen!“, hörten wir sie alle immer wieder sagen, unsere Großeltern, unsere Onkel und Tanten. Dann sahen wir kleine Mädchen in den Aufnahmen, die nacheinander albanische Gedichte aufsagten, die wie uns erklärt wurde, unsere Cousinen seien sollten. Die Videokassetten riefen in meinen Eltern immer gemischte Gefühl hervor. Einerseits freuten sie sich, andererseits weinten sie, weil sie so viele wichtige Momente mit der Familie im Kosovo verpassten und zusehen mussten wie schnell die Jahre vergingen und wir Kinder größer wurden ohne Oma und Opa zu sehen. Sehr tragisch wurde es, wenn meine Eltern von Todesfällen in ihren Familien mitbekamen. An solchen seltenen Tagen sahen wir plötzlich nur noch wie unsere Eltern weinten und wussten nicht, was passiert ist, wie es an einem warmen Maitag 2001 der Fall war. Mein Vater nahm uns Kinder an den Händen, setzte sich mit uns draußen auf den Stufen vor der Haustür, um uns in Ruhe zu erklären, warum er weinte. „Meine Schwester, das heißt eure Tante, hatte gesundheitliche Probleme und ist an Krebs gestorben. Das ist eine ganz schlimme Krankheit.“ Er versuchte stark seine Tränen zurückzuhalten, umarmte uns ganz fest und sagte: „Sie hätte euch Kinder so lieb gehabt!“ Da wir zu klein waren, um überhaupt einen Todesfall zu verstehen, auch noch von einer Person, die wir nie gesehen hatten, konnten wir nicht die gleiche Trauer empfinden, wie unser Vater. Wir weinten, weil wir ihn weinen sahen und daraus schließen konnten, dass es ihm nicht gut ging. Als ich ein Alter erreicht hatte, in dem ich das alles im Nachhinein nachvollziehen konnte, öffnete ich einen von meiner Tante verfassten und an mich adressierten Brief, den meine Mutter für mich aufgehoben hatte, in dem es hieß, dass sie mich fest umarme, sehr lieb hat, und sehnsüchtig auf mich in Pristina warte. Ich faltete den Brief zu an erinnerte mich an den Schmerz meines Vaters. Ich empfand Trauer.
© Aulona Demolli 2024-08-30