Familientreffen schwänzen für Anfänger

Laura Petretto

von Laura Petretto

Story

Als Minijobberin ist es nicht so, als hätte ich zu viel Geld. Das bedeutet aber nicht, dass ich im Ernstfall nicht meine eigenen Reifen aufschlitzen würde. „Das ist nicht dein Ernst.“ Kai starrt ungläubig auf das Messer in meiner Hand.

„Absolut.“ Ich blicke von der Klinge zu ihm und wieder zu dem Auto vor mir. Es tut mir ja selbst in der Seele weh, aber ich habe keine andere Wahl. Ein wenig ratlos tippe ich mit der Spitze gegen das schwarze Gummi. Muss man beim Reifenaufschlitzen wohl auf etwas Bestimmtes achten?

„Mia.“ Die Stimme meines Bruders ist scharf. „Du kannst nicht ernsthaft so kindisch sein.“ „Kann ich doch“, entgegne ich. „Nein, kannst du nicht.“ „Doch.“ „Nein.“ „Doch.“ „Nein.“ Ich strecke ihm die Zunge heraus, bevor ich abermals in die Hocke gehe.

„Du weißt, dass das deine Probleme nicht löst, oder? Früher oder später wirst du dich damit auseinandersetzen müssen. Du kannst nicht ewig davonlaufen, auch wenn dein Umzug bei Nacht und Nebel schon ein netter Versuch war.“

„Ich glaube du unterschätzt meine Fähigkeit darin, Probleme zu verdrängen“, erwidere ich.

„Mia.“ Offenbar hat Kai es noch immer nicht aufgegeben, mich überreden zu wollen. Ich atme einmal tief durch und drehe mich zu ihm um. „Hör zu, Kai. Ich kann da nicht hin. Ich habe es kaum rausgeschafft. Und jetzt willst du, dass ich zurückkomme?“ „Übertreibst du damit nicht ein bisschen?“ Kai tritt in seinen alten roten Sneakern von einem Fuß auf den anderen.

„Vielleicht hing nicht gerade mein Überleben davon ab“, gebe ich zu. „Aber ich wäre auf jeden Fall verrückt geworden.“ Als Kai schweigt, weiß ich, dass er seine Entscheidung gefällt hat. Er wird zu diesem Familienfest gehen, und zwar nicht ohne mich. Er kann mich zwar nicht wie früher einfach

über seine Schulter werfen, aber irgendwie wird er mich zwingen, ihn zu begleiten. Und das kann ich ihn nicht zulassen.

Ich richte mich auf. Meine Hand umschließt das Küchenmesser fester. Es ist zwar schon ein wenig alt, doch ich schleife es nach wie vor regelmäßig. Es gibt kaum etwas, durch das es nicht wie durch Butter gleitet. Der Blick meines Bruders zuckt nach unten, zu der Klinge, die im Licht der Abendsonne glänzt. Ich mache einen Schritt auf ihn zu. Es ist gut, dass niemand sonst auf den Straßen ist. Die winterliche Kälte hat sie alle in ihre Häuser getrieben. Noch ein Schritt. Ich sehe meinen Bruder an und weiß, dass ich keine Wahl habe. Entweder das oder er wird mich mit zu diesem Brunch schleifen. Nur wenige Zentimeter vor ihm bleibe ich stehen, das Messer zwischen uns. Ich beuge mich vor, und Kais Augen weiten sich.

„Wenn du mich dazu zwingst, mitzukommen“, sage ich leise, meine Stimme kaum mehr als ein Flüstern. „Erzähle ich Mama und Papa und auch Tante Eva und Tante Frida, dass du seit zwei Jahren eine Affäre mit Evas Rheumatologin hast. Das wird ihnen sicher gefallen, schließlich bist du ihr Goldjunge.“

Er wird blass. „Das würdest du nicht tun.“ Ich lächele grimmig und halte ihm das Messer entgegen. „Möchtest du die Ehre haben?“

© Laura Petretto 2022-08-13

Hashtags