von Sonja M. Winkler
Manch Wissenswertes speichert mein Gedächtnis nur ab, weil es mit kuriosen Bezeichnungen verbunden ist und mit schönen Erlebnissen. Vor zwei Tagen wurde mein Wortschatz durch den „fatalen Zwickel“ bereichert.
Das Wetter sah nicht verheißungsvoll aus, aber der Regenguss blieb aus, wahrscheinlich weil ich gerüstet war mit Gummistiefeletten und Regenschirm. Mittwoch um 14 Uhr war die Führung durch den 7. Wiener Gemeindebezirk angesetzt. Cornelia ist geprüfte Fremdenführerin, und der Spaziergang war ein verspätetes Muttertagsgeschenk für ihre Mutter, die meine älteste Ex-Kollegin ist.
Wir stehen am Eck des Mechitaristenklosters. Die dort untergebrachte Druckerei sei berühmt, sagt Cornelia, weil sie Bücher in armenischer Sprache gedruckt habe. Das Kloster sei nach einem Brand wiederaufgebaut worden, ich glaube, von Kornhäusel, aber später renovierte es Camillo Sitte im Stil der Neurenaissance. Cornelia fragt uns, sagt euch Camillo Sitte was?
Und plötzlich bricht sie in ein Lachen aus, gluckst glockenhell und derfangt sich nimmer. Es ist wegen dem fatalen Zwickel, sagt sie.
Ich habe so meine Assoziationen zu Camillo Sitte. Meine Gedanken huschen flüchtig zu K., der mich kurze Zeit mit Esprit und Zärtlichkeit bei Laune hielt. Er war damals Lehrer im Camillo Sitte Bautechnikum, wie sich die HTL in Wien 3, Leberstraße, jetzt nennt. Er unterrichtete Statik, aber das Beziehungsgebäude hatte ein wackeliges Fundament.
Außerdem: Eine Straße im 15. Bezirk heißt Camillo-Sitte-Gasse. Wo sie in die Gablenzgasse mündet, war früher ein Bauchtanzstudio, in dem ich einmal wöchentlich mein Becken kreisen ließ.
Cornelia gluckst noch immer. Ich google, fuhr sie fort,„fataler Zwickel“ und hoffte, eine verwertbare Erklärung gewisser bautechnischer Details zu finden. Doch was ich fand, war eine verführerische Wolford-Strumpfhose namens FATAL, perfekter Sitz und Tragekomfort ohne Naht und Zwickel. Also ohne fatalen Zwickel, wo alle Laufmaschen Halt machen.
Cornelia sagt, sie habe ihn dann schlussendlich entdeckt, den fatalen Zwickel des Camillo Sitte. Dieser habe große stadtplanerische Ideen gehabt, sagt sie. Begeistert von den italienischen piazze e piazzette, wollte er seine Pläne auch hierzulande umsetzen. Er liebte Säulengänge und Lauben, die einen Platz umschließen und auflockern. Dreieckige Plätze waren für ihn unerträglich. Er nannte sie „fatale Zwickel“.
Zu Fronleichnam spaziere ich mit einer Freundin durch den Pötzleinsdorfer Park. Ich erzähle ihr von der Führung, sie berichtet mir von ihrem 3-tägigen Aufenthalt in ihrer Heimatstadt. Im Garten ihres Elternhauses, sagt sie, wuchert der Cotoneaster in rasendem Tempo. Ist so ein Bodenkriecher, genügsam und nicht umzubringen, sagt sie. Sie habe zwei Stunden die 30 cm hohen Stauden ausgebuddelt aus dem Beet, das spitzwinkelig zuläuft. Sie zeigt mir ein Foto.
Schon wieder ein fataler Zwickel, sage ich, und wir schütteln uns vor Lachen.
© Sonja M. Winkler 2020-06-12