von Momo Dio
Ein unbekannter Mann läuft am Strand entlang. Er richtet die Augen auf den Boden, um dem Blick der Sonne zu weichen. Ein gewöhnlicher Stein erklimmt sein Blickfeld und der Mann beachtet ihn erst nicht. Der Strand ist voller Sandkörner, die einst Steine waren. Ein Gedankenblitz zieht über sein Blickfeld und er schaut zurück auf den Stein. Jetzt erkennt er ihn und schmunzelt. Er hebt ihn auf, um ihn genau zu betrachten, jetzt ist er sich sicher, dass Schmunzeln mutiert. Gehässiges Lachen besiedelt die Böen. Er ist es. Er, der einst vor vielen Tausend Jahren ein Felsen war. Der Mann erinnert sich nun an die damalige Zeit und die sanften Erinnerungswellen schwappen über den Rand.
Er war ein mächtiger Felsen. Er war der mächtigste Felsen. Der Fels aller Felsen, größer als alle Berge. Seine Größe war gigantisch und sein Schatten überzog ganze Kontinente. Er war ein Gott und er überblickte alles. Niemand konnte ihn erklimmen, selbst dem Schnee gelang es nicht. Durch seine Höhe kam der Hochmut. Der Hochmut und seine Arroganz. Es fing mit Spielchen und kleinen Wetten an und schaukelte sich immer höher. Bis die Überheblichkeit seine Spitze berührte. Viele Tausende Jahre blieb er unbesiegt und nur Verrückte und Narren legten sich mit ihm an. Kein Gott wollte es mit ihm aufnehmen. Der Fels sagte: „Ich werde bis zum Ende der Zeit existieren und jeder wird mir huldigen“. Doch dann kam die Flut.
Sie sagte: „Eines Tages werde ich dich richten, Fels“ und der Felsen lachte nur. „Einen starken Baum vermagst du nicht zu richten“, gluckste er „Selbst in der Unendlichkeit kannst du mir nichts anhaben“ und nahm die Wette an. Die Flut wurde zum Meer. Mit brausenden Wellen bauschte das Meer sich auf. Jahr für Jahr. Jahrzehnt für Jahrzehnt. Jahrhundert für Jahrhundert. Lange passierte nichts. Die Unendlichkeit allerdings war zäh. Der Felsen hatte ihre Dauer unterschätzt. Die Zeit hinterließ Spuren. Der raue Stein wurde glatt, erste Steinbrocken fielen ins Meer und kleine Auskerbungen machten sich bemerkbar. Unbedeutende kleine Verletzungen, die der Fels selbst nicht einmal bemerkte. Andere machten ihn darauf aufmerksam. Sie fragten: „War der Bereich hier schon immer glatt?“ Oder „Ist die Kerbe neu?“. Der Felsen log. „Na klar.“ Oder „Nein, die war da schon immer“, antwortete er. Innerlich machte sich ein Unbehagen breit und Zweifel kamen auf. Er musste etwas gegen das Meer unternehmen. Also traf er sich mit der Sonne, um sie davon zu überzeugen, das Meer auszutrocknen. Die Sonne willigte ein und fing mit ihrer Arbeit an. Sie brannte. Jahr für Jahr. Der Meeresspiegel sank und das Meer wurde zum Fluss. Doch die Wolken mischten sich ein und retteten das Meer. Sie gaben ihm Regen und fingen die Tropfen auf, bevor die Sonne sie sich holen konnte. Aus dem Fluss entstand ein Meer, das größer war als je zuvor und es wütete. Als der Wind von dem Spektakel erfuhr, schloss auch er sich dem Vorhaben an und die Wellen wuchsen zu Mauern. Der Felsen fiel.
Poseidon schließt seine Erinnerungen. „Sieh nur, was aus dir geworden ist“, spricht er zu ihm. Dann holt er aus und wirft den Stein weit hinaus ins Meer. Mit einem zufriedenen Grinsen fügt er noch hinzu: „Eines Tages wirst du ein Sandkorn sein.“
© Momo Dio 2024-09-02